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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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Fragen und Flugschriften wenig interessirt, aber der Grund
hiefür ist leicht zu finden. Was soll dem Arbeiter, der
kein Wahlrecht hat, die Aufforderung nur Liberale zu wählen,
was dem Bauer, der unter dem Druck der Noth erliegt und
weder Zeit, noch Geld, noch Verständniß für Zeitungen hat,
die Einladung zum Eintritt in den Preßverein?! Steigt
zu diesen armen Leuten herab, redet zu ihnen in ihrer
Sprache, von ihren Interessen, und sie werden Euch ver-
stehen! Diese Interessen sind die materiellen: der Druck
der Geld- und Blutsteuer, die Noth, die Rechtlosigkeit!
Sprecht dem Bauer nicht von der Verfassung -- sie hat für
ihn keinen Werth! -- nicht von Preßfreiheit -- er versteht
sie nicht! -- sprecht ihm von seinem Elend, welches ihn vor
vier Jahren zur Sense und Keule greifen ließ, und er wird
Euch folgen und sich wieder gegen seinen Dränger erheben,
aber dießmal siegreich, weil mit Waffen ausgerüstet und
vernünftig geführt! ... Dies in möglichster Kürze und
logisch geordnet Büchner's Gedankengang; in breiterer Aus-
führung, zum Theil mit Büchner's eigenen Worten, findet
er sich in den Geständnissen Becker's vor dem hessischen
Gericht, welche der Anhang bringt. Wer sie im Zusammen-
hang mit dem Vorstehenden liest, wird sofort erkennen, daß
Büchner da nicht blos ein neues Programm für die Flug-
schriften in Hessen entwickelte, sondern für die gesammte
demokratische Bewegung in Deutschland. Dieselbe hatte sich
bis dahin in politischen Theorien bewegt, Büchner mahnte
sie an die materiellen Interessen und predigte den Bund
der politischen mit der socialen Revolution. Das
war ein völlig neuer, unerhört kühner Gedanke von größter
Tragweite -- kein Wunder, daß er zuerst Alle verblüffte,

Fragen und Flugſchriften wenig intereſſirt, aber der Grund
hiefür iſt leicht zu finden. Was ſoll dem Arbeiter, der
kein Wahlrecht hat, die Aufforderung nur Liberale zu wählen,
was dem Bauer, der unter dem Druck der Noth erliegt und
weder Zeit, noch Geld, noch Verſtändniß für Zeitungen hat,
die Einladung zum Eintritt in den Preßverein?! Steigt
zu dieſen armen Leuten herab, redet zu ihnen in ihrer
Sprache, von ihren Intereſſen, und ſie werden Euch ver-
ſtehen! Dieſe Intereſſen ſind die materiellen: der Druck
der Geld- und Blutſteuer, die Noth, die Rechtloſigkeit!
Sprecht dem Bauer nicht von der Verfaſſung — ſie hat für
ihn keinen Werth! — nicht von Preßfreiheit — er verſteht
ſie nicht! — ſprecht ihm von ſeinem Elend, welches ihn vor
vier Jahren zur Senſe und Keule greifen ließ, und er wird
Euch folgen und ſich wieder gegen ſeinen Dränger erheben,
aber dießmal ſiegreich, weil mit Waffen ausgerüſtet und
vernünftig geführt! ... Dies in möglichſter Kürze und
logiſch geordnet Büchner's Gedankengang; in breiterer Aus-
führung, zum Theil mit Büchner's eigenen Worten, findet
er ſich in den Geſtändniſſen Becker's vor dem heſſiſchen
Gericht, welche der Anhang bringt. Wer ſie im Zuſammen-
hang mit dem Vorſtehenden lieſt, wird ſofort erkennen, daß
Büchner da nicht blos ein neues Programm für die Flug-
ſchriften in Heſſen entwickelte, ſondern für die geſammte
demokratiſche Bewegung in Deutſchland. Dieſelbe hatte ſich
bis dahin in politiſchen Theorien bewegt, Büchner mahnte
ſie an die materiellen Intereſſen und predigte den Bund
der politiſchen mit der ſocialen Revolution. Das
war ein völlig neuer, unerhört kühner Gedanke von größter
Tragweite — kein Wunder, daß er zuerſt Alle verblüffte,

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[CX/0126] Fragen und Flugſchriften wenig intereſſirt, aber der Grund hiefür iſt leicht zu finden. Was ſoll dem Arbeiter, der kein Wahlrecht hat, die Aufforderung nur Liberale zu wählen, was dem Bauer, der unter dem Druck der Noth erliegt und weder Zeit, noch Geld, noch Verſtändniß für Zeitungen hat, die Einladung zum Eintritt in den Preßverein?! Steigt zu dieſen armen Leuten herab, redet zu ihnen in ihrer Sprache, von ihren Intereſſen, und ſie werden Euch ver- ſtehen! Dieſe Intereſſen ſind die materiellen: der Druck der Geld- und Blutſteuer, die Noth, die Rechtloſigkeit! Sprecht dem Bauer nicht von der Verfaſſung — ſie hat für ihn keinen Werth! — nicht von Preßfreiheit — er verſteht ſie nicht! — ſprecht ihm von ſeinem Elend, welches ihn vor vier Jahren zur Senſe und Keule greifen ließ, und er wird Euch folgen und ſich wieder gegen ſeinen Dränger erheben, aber dießmal ſiegreich, weil mit Waffen ausgerüſtet und vernünftig geführt! ... Dies in möglichſter Kürze und logiſch geordnet Büchner's Gedankengang; in breiterer Aus- führung, zum Theil mit Büchner's eigenen Worten, findet er ſich in den Geſtändniſſen Becker's vor dem heſſiſchen Gericht, welche der Anhang bringt. Wer ſie im Zuſammen- hang mit dem Vorſtehenden lieſt, wird ſofort erkennen, daß Büchner da nicht blos ein neues Programm für die Flug- ſchriften in Heſſen entwickelte, ſondern für die geſammte demokratiſche Bewegung in Deutſchland. Dieſelbe hatte ſich bis dahin in politiſchen Theorien bewegt, Büchner mahnte ſie an die materiellen Intereſſen und predigte den Bund der politiſchen mit der ſocialen Revolution. Das war ein völlig neuer, unerhört kühner Gedanke von größter Tragweite — kein Wunder, daß er zuerſt Alle verblüffte,

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. CX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/126>, abgerufen am 24.11.2024.