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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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Sommerluft, ein schweres Gewölk wandelt über die Erde,
der tiefbrausende Wind klingt wie sein melodischer Schritt.
Die Frühlingsluft löste mich aus meinem Starrkrampf. Ich
erschrack vor mir selbst. Das Gefühl des Gestorbenseins
war immer über mir. Alle Menschen machten mir das
hippokratische Gesicht, die Augen verglast, die Wangen wie
von Wachs, und wenn dann die ganze Maschinerie zu leiern
anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und
ich das ewige Orgellied herumtrillern hörte und die Wälzchen
und Stiftchen im Orgelkasten hüpfen und drehen sah, --
ich verfluchte das Concert, den Kasten, die Melodie und --
ach, wir armen schreienden Musikanten! das Stöhnen auf
unsrer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolken-
ritzen dringend und weiter, weiter klingend wie ein melodischer
Hauch in himmlischen Ohren stirbt? Wären wir das Opfer
im glühenden Bauch des Perryllusstiers, dessen Todesschrei
wie das Aufjauchzen des in den Flammen sich aufzehrenden
Gottstiers klingt. Ich lästre nicht. Aber die Menschen
lästern. Und doch bin ich gestraft, ich fürchte mich vor
meiner Stimme und -- vor meinem Spiegel. Ich hätte
Herrn Callot-Hoffmann sitzen können, nicht wahr, meine
Liebe? Für das Modelliren hätte ich Reisegeld bekommen.
Ich spüre, ich fange an, interessant zu werden. --

Die Ferien fangen morgen in vierzehn Tagen an; ver-
weigert man die Erlaubniß, so gehe ich heimlich, ich bin mir
selbst schuldig, einem unerträglichen Zustande ein Ende zu
machen. Meine geistigen Kräfte sind gänzlich zerrüttet.
Arbeiten ist mir unmöglich, ein dumpfes Brüten hat sich
meiner bemeistert, in dem mir kaum ein Gedanke noch hell
wird. Alles verzehrt sich in mir selbst; hätte ich einen Weg

Sommerluft, ein ſchweres Gewölk wandelt über die Erde,
der tiefbrauſende Wind klingt wie ſein melodiſcher Schritt.
Die Frühlingsluft löſte mich aus meinem Starrkrampf. Ich
erſchrack vor mir ſelbſt. Das Gefühl des Geſtorbenſeins
war immer über mir. Alle Menſchen machten mir das
hippokratiſche Geſicht, die Augen verglaſt, die Wangen wie
von Wachs, und wenn dann die ganze Maſchinerie zu leiern
anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und
ich das ewige Orgellied herumtrillern hörte und die Wälzchen
und Stiftchen im Orgelkaſten hüpfen und drehen ſah, —
ich verfluchte das Concert, den Kaſten, die Melodie und —
ach, wir armen ſchreienden Muſikanten! das Stöhnen auf
unſrer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolken-
ritzen dringend und weiter, weiter klingend wie ein melodiſcher
Hauch in himmliſchen Ohren ſtirbt? Wären wir das Opfer
im glühenden Bauch des Perryllusſtiers, deſſen Todesſchrei
wie das Aufjauchzen des in den Flammen ſich aufzehrenden
Gottſtiers klingt. Ich läſtre nicht. Aber die Menſchen
läſtern. Und doch bin ich geſtraft, ich fürchte mich vor
meiner Stimme und — vor meinem Spiegel. Ich hätte
Herrn Callot-Hoffmann ſitzen können, nicht wahr, meine
Liebe? Für das Modelliren hätte ich Reiſegeld bekommen.
Ich ſpüre, ich fange an, intereſſant zu werden. —

Die Ferien fangen morgen in vierzehn Tagen an; ver-
weigert man die Erlaubniß, ſo gehe ich heimlich, ich bin mir
ſelbſt ſchuldig, einem unerträglichen Zuſtande ein Ende zu
machen. Meine geiſtigen Kräfte ſind gänzlich zerrüttet.
Arbeiten iſt mir unmöglich, ein dumpfes Brüten hat ſich
meiner bemeiſtert, in dem mir kaum ein Gedanke noch hell
wird. Alles verzehrt ſich in mir ſelbſt; hätte ich einen Weg

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[374/0570] Sommerluft, ein ſchweres Gewölk wandelt über die Erde, der tiefbrauſende Wind klingt wie ſein melodiſcher Schritt. Die Frühlingsluft löſte mich aus meinem Starrkrampf. Ich erſchrack vor mir ſelbſt. Das Gefühl des Geſtorbenſeins war immer über mir. Alle Menſchen machten mir das hippokratiſche Geſicht, die Augen verglaſt, die Wangen wie von Wachs, und wenn dann die ganze Maſchinerie zu leiern anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und ich das ewige Orgellied herumtrillern hörte und die Wälzchen und Stiftchen im Orgelkaſten hüpfen und drehen ſah, — ich verfluchte das Concert, den Kaſten, die Melodie und — ach, wir armen ſchreienden Muſikanten! das Stöhnen auf unſrer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolken- ritzen dringend und weiter, weiter klingend wie ein melodiſcher Hauch in himmliſchen Ohren ſtirbt? Wären wir das Opfer im glühenden Bauch des Perryllusſtiers, deſſen Todesſchrei wie das Aufjauchzen des in den Flammen ſich aufzehrenden Gottſtiers klingt. Ich läſtre nicht. Aber die Menſchen läſtern. Und doch bin ich geſtraft, ich fürchte mich vor meiner Stimme und — vor meinem Spiegel. Ich hätte Herrn Callot-Hoffmann ſitzen können, nicht wahr, meine Liebe? Für das Modelliren hätte ich Reiſegeld bekommen. Ich ſpüre, ich fange an, intereſſant zu werden. — Die Ferien fangen morgen in vierzehn Tagen an; ver- weigert man die Erlaubniß, ſo gehe ich heimlich, ich bin mir ſelbſt ſchuldig, einem unerträglichen Zuſtande ein Ende zu machen. Meine geiſtigen Kräfte ſind gänzlich zerrüttet. Arbeiten iſt mir unmöglich, ein dumpfes Brüten hat ſich meiner bemeiſtert, in dem mir kaum ein Gedanke noch hell wird. Alles verzehrt ſich in mir ſelbſt; hätte ich einen Weg

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/570>, abgerufen am 22.11.2024.