Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

in allen Fugen; der Aufstand der Herzogin von Berry, der
Barricadenkampf beim Begräbnisse Lamarques, der grimmige
Kampf in den Kammern waren nur die äußeren Symptome
eines gewaltigen Prozesses, der den Staat im Kern unter-
wühlte, dessen Ende Niemand absah. Hiezu kam noch das
Auftreten jener fürchterlichen, bisher unbekannten Seuche:
der Cholera, welche die Menschen mit Verzweiflung erfüllte
und ihre gemeinen Triebe entfesselte. Wer damals in Frank-
reich verweilte, erlebte keinen Tag, der für den nächsten völlige
Sicherheit verbürgt hätte -- es schien Unerwartetes in der
Luft zu liegen, Unerhörtes: die soziale Revolution und ein
Weltkrieg dazu. Es war eine Zeit, die kein Abseitstehen
duldete; sie zwang mit elementarer Gewalt die Parteinahme
auf. Daß der achtzehnjährige Schwärmer in dieser Atmo-
sphäre ein Republikaner, ein Radikaler wurde, werden mußte,
ist klar. Und wer den Zug der Zeit und einen Hauptzug
im Charakter dieses Jünglings, den kühnen Trotz, in Betracht
zieht, wird auch darüber nicht verwundert sein, daß er immer
weiter nach links gerieth, bis zur Verwerfung nicht blos der
Monarchie, nicht blos des Constitutionalismus, sondern auch
der gemäßigten Republik, bis zur Verwerfung nicht blos
der Geldherrschaft, sondern auch der bestehenden bürgerlichen
Besitzverhältnisse. Aber merkwürdig und staunenswerth ist
es, daß ihn auf diesem Wege, auf welchem sonst sogar an
sich nüchterne Naturen von Schwärmerei und Phrasendunst
befallen zu werden pflegen, alle Schwärmerei verließ, daß er
sich an jenem Punkte, wo sonst sogar für gereifte Männer
seiner Partei das Reich schwankender Hoffnungen und phan-
tastischer Träume begann, zu nüchterner Klarheit empor-
kämpfte, zur Abkehr von allen abgebrauchten Schlagworten,

in allen Fugen; der Aufſtand der Herzogin von Berry, der
Barricadenkampf beim Begräbniſſe Lamarques, der grimmige
Kampf in den Kammern waren nur die äußeren Symptome
eines gewaltigen Prozeſſes, der den Staat im Kern unter-
wühlte, deſſen Ende Niemand abſah. Hiezu kam noch das
Auftreten jener fürchterlichen, bisher unbekannten Seuche:
der Cholera, welche die Menſchen mit Verzweiflung erfüllte
und ihre gemeinen Triebe entfeſſelte. Wer damals in Frank-
reich verweilte, erlebte keinen Tag, der für den nächſten völlige
Sicherheit verbürgt hätte — es ſchien Unerwartetes in der
Luft zu liegen, Unerhörtes: die ſoziale Revolution und ein
Weltkrieg dazu. Es war eine Zeit, die kein Abſeitſtehen
duldete; ſie zwang mit elementarer Gewalt die Parteinahme
auf. Daß der achtzehnjährige Schwärmer in dieſer Atmo-
ſphäre ein Republikaner, ein Radikaler wurde, werden mußte,
iſt klar. Und wer den Zug der Zeit und einen Hauptzug
im Charakter dieſes Jünglings, den kühnen Trotz, in Betracht
zieht, wird auch darüber nicht verwundert ſein, daß er immer
weiter nach links gerieth, bis zur Verwerfung nicht blos der
Monarchie, nicht blos des Conſtitutionalismus, ſondern auch
der gemäßigten Republik, bis zur Verwerfung nicht blos
der Geldherrſchaft, ſondern auch der beſtehenden bürgerlichen
Beſitzverhältniſſe. Aber merkwürdig und ſtaunenswerth iſt
es, daß ihn auf dieſem Wege, auf welchem ſonſt ſogar an
ſich nüchterne Naturen von Schwärmerei und Phraſendunſt
befallen zu werden pflegen, alle Schwärmerei verließ, daß er
ſich an jenem Punkte, wo ſonſt ſogar für gereifte Männer
ſeiner Partei das Reich ſchwankender Hoffnungen und phan-
taſtiſcher Träume begann, zu nüchterner Klarheit empor-
kämpfte, zur Abkehr von allen abgebrauchten Schlagworten,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0066" n="L"/>
in allen Fugen; der Auf&#x017F;tand der Herzogin von Berry, der<lb/>
Barricadenkampf beim Begräbni&#x017F;&#x017F;e Lamarques, der grimmige<lb/>
Kampf in den Kammern waren nur die äußeren Symptome<lb/>
eines gewaltigen Proze&#x017F;&#x017F;es, der den Staat im Kern unter-<lb/>
wühlte, de&#x017F;&#x017F;en Ende Niemand ab&#x017F;ah. Hiezu kam noch das<lb/>
Auftreten jener fürchterlichen, bisher unbekannten Seuche:<lb/>
der Cholera, welche die Men&#x017F;chen mit Verzweiflung erfüllte<lb/>
und ihre gemeinen Triebe entfe&#x017F;&#x017F;elte. Wer damals in Frank-<lb/>
reich verweilte, erlebte keinen Tag, der für den näch&#x017F;ten völlige<lb/>
Sicherheit verbürgt hätte &#x2014; es &#x017F;chien Unerwartetes in der<lb/>
Luft zu liegen, Unerhörtes: die &#x017F;oziale Revolution und ein<lb/>
Weltkrieg dazu. Es war eine Zeit, die kein Ab&#x017F;eit&#x017F;tehen<lb/>
duldete; &#x017F;ie zwang mit elementarer Gewalt die Parteinahme<lb/>
auf. Daß der achtzehnjährige Schwärmer in die&#x017F;er Atmo-<lb/>
&#x017F;phäre ein Republikaner, ein Radikaler wurde, werden <hi rendition="#g">mußte</hi>,<lb/>
i&#x017F;t klar. Und wer den Zug der Zeit und einen Hauptzug<lb/>
im Charakter die&#x017F;es Jünglings, den kühnen Trotz, in Betracht<lb/>
zieht, wird auch darüber nicht verwundert &#x017F;ein, daß er immer<lb/>
weiter nach links gerieth, bis zur Verwerfung nicht blos der<lb/>
Monarchie, nicht blos des Con&#x017F;titutionalismus, &#x017F;ondern auch<lb/>
der gemäßigten Republik, bis zur Verwerfung nicht blos<lb/>
der Geldherr&#x017F;chaft, &#x017F;ondern auch der be&#x017F;tehenden bürgerlichen<lb/>
Be&#x017F;itzverhältni&#x017F;&#x017F;e. Aber merkwürdig und &#x017F;taunenswerth i&#x017F;t<lb/>
es, daß ihn auf die&#x017F;em Wege, auf welchem &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;ogar an<lb/>
&#x017F;ich nüchterne Naturen von Schwärmerei und Phra&#x017F;endun&#x017F;t<lb/>
befallen zu werden pflegen, alle Schwärmerei verließ, daß er<lb/>
&#x017F;ich an jenem Punkte, wo &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;ogar für gereifte Männer<lb/>
&#x017F;einer Partei das Reich &#x017F;chwankender Hoffnungen und phan-<lb/>
ta&#x017F;ti&#x017F;cher Träume begann, zu nüchterner Klarheit empor-<lb/>
kämpfte, zur Abkehr von allen abgebrauchten Schlagworten,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[L/0066] in allen Fugen; der Aufſtand der Herzogin von Berry, der Barricadenkampf beim Begräbniſſe Lamarques, der grimmige Kampf in den Kammern waren nur die äußeren Symptome eines gewaltigen Prozeſſes, der den Staat im Kern unter- wühlte, deſſen Ende Niemand abſah. Hiezu kam noch das Auftreten jener fürchterlichen, bisher unbekannten Seuche: der Cholera, welche die Menſchen mit Verzweiflung erfüllte und ihre gemeinen Triebe entfeſſelte. Wer damals in Frank- reich verweilte, erlebte keinen Tag, der für den nächſten völlige Sicherheit verbürgt hätte — es ſchien Unerwartetes in der Luft zu liegen, Unerhörtes: die ſoziale Revolution und ein Weltkrieg dazu. Es war eine Zeit, die kein Abſeitſtehen duldete; ſie zwang mit elementarer Gewalt die Parteinahme auf. Daß der achtzehnjährige Schwärmer in dieſer Atmo- ſphäre ein Republikaner, ein Radikaler wurde, werden mußte, iſt klar. Und wer den Zug der Zeit und einen Hauptzug im Charakter dieſes Jünglings, den kühnen Trotz, in Betracht zieht, wird auch darüber nicht verwundert ſein, daß er immer weiter nach links gerieth, bis zur Verwerfung nicht blos der Monarchie, nicht blos des Conſtitutionalismus, ſondern auch der gemäßigten Republik, bis zur Verwerfung nicht blos der Geldherrſchaft, ſondern auch der beſtehenden bürgerlichen Beſitzverhältniſſe. Aber merkwürdig und ſtaunenswerth iſt es, daß ihn auf dieſem Wege, auf welchem ſonſt ſogar an ſich nüchterne Naturen von Schwärmerei und Phraſendunſt befallen zu werden pflegen, alle Schwärmerei verließ, daß er ſich an jenem Punkte, wo ſonſt ſogar für gereifte Männer ſeiner Partei das Reich ſchwankender Hoffnungen und phan- taſtiſcher Träume begann, zu nüchterner Klarheit empor- kämpfte, zur Abkehr von allen abgebrauchten Schlagworten,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/66
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. L. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/66>, abgerufen am 27.11.2024.