lagert. Auch werden wir später hervorzuheben haben, wie diese Gießener Stimmungen Büchner's einen wichtigen Com- mentar zu jenem Werke bilden, wie es bedeutungsvoll ist, daß er viele Stellen aus seinen Gießener Briefen dann fast ungeändert in sein Werk hinüber genommen. Hier haben wir nur kurz anzudeuten, wie sich jene Geschichtsauffassung in ihm erklärt. Die Ophtalmologen berichten von einer Krank- heit, in welcher das Auge die Umrisse der Gegenstände viel schärfer sieht, als in normalem Zustande, nur daß es gleich- zeitig die Fähigkeit verliert, leuchtende Farben zu unter- scheiden; es sieht Alles scharf, aber Grau in Grau. Büchner war älter und reifer geworden, er gewann einen durchdrin- genden Blick für Charaktere und Verhältnisse der Geschichte, aber seine tiefe Melancholie bewirkte es, daß sie düster und farblos an ihm vorbeizogen, aus Nacht in Nacht ...
In diese Wirrniß seelischer Qualen, welche über den gemüthstiefen Jüngling hereingebrochen, fiel von außen kein tröstendes Licht. Selbst der Gedanke an die Braut weckte ihm nur die schmerzliche Empfindung, daß er sie missen mußte. Man wird in dieser Trennung von der Geliebten nicht die Hauptquellen seiner trostlosen Gemüthsstimmung erblicken dürfen, aber daß dieser Umstand dazu beigetragen, ihn zu verstimmen, seine Energie zu lähmen und ihn hilflos seinen selbstquälerischen Gedanken preiszugeben, wird Niemand be- zweifeln, der seine Briefe an Minna liest. (S. 371-78) Glühendste Liebe, schmerzlichste Sehnsucht sprechen aus jeder Zeile. Einige bezeichnende Stellen haben wir bereits oben hervorgehoben, um das Verhältniß im Allgemeinen zu charakte- risiren. Wer diese merkwürdigen Briefe unbefangen auf sich wirken läßt, wird freilich nicht verkennen, daß die Empfin-
lagert. Auch werden wir ſpäter hervorzuheben haben, wie dieſe Gießener Stimmungen Büchner's einen wichtigen Com- mentar zu jenem Werke bilden, wie es bedeutungsvoll iſt, daß er viele Stellen aus ſeinen Gießener Briefen dann faſt ungeändert in ſein Werk hinüber genommen. Hier haben wir nur kurz anzudeuten, wie ſich jene Geſchichtsauffaſſung in ihm erklärt. Die Ophtalmologen berichten von einer Krank- heit, in welcher das Auge die Umriſſe der Gegenſtände viel ſchärfer ſieht, als in normalem Zuſtande, nur daß es gleich- zeitig die Fähigkeit verliert, leuchtende Farben zu unter- ſcheiden; es ſieht Alles ſcharf, aber Grau in Grau. Büchner war älter und reifer geworden, er gewann einen durchdrin- genden Blick für Charaktere und Verhältniſſe der Geſchichte, aber ſeine tiefe Melancholie bewirkte es, daß ſie düſter und farblos an ihm vorbeizogen, aus Nacht in Nacht ...
In dieſe Wirrniß ſeeliſcher Qualen, welche über den gemüthstiefen Jüngling hereingebrochen, fiel von außen kein tröſtendes Licht. Selbſt der Gedanke an die Braut weckte ihm nur die ſchmerzliche Empfindung, daß er ſie miſſen mußte. Man wird in dieſer Trennung von der Geliebten nicht die Hauptquellen ſeiner troſtloſen Gemüthsſtimmung erblicken dürfen, aber daß dieſer Umſtand dazu beigetragen, ihn zu verſtimmen, ſeine Energie zu lähmen und ihn hilflos ſeinen ſelbſtquäleriſchen Gedanken preiszugeben, wird Niemand be- zweifeln, der ſeine Briefe an Minna lieſt. (S. 371-78) Glühendſte Liebe, ſchmerzlichſte Sehnſucht ſprechen aus jeder Zeile. Einige bezeichnende Stellen haben wir bereits oben hervorgehoben, um das Verhältniß im Allgemeinen zu charakte- riſiren. Wer dieſe merkwürdigen Briefe unbefangen auf ſich wirken läßt, wird freilich nicht verkennen, daß die Empfin-
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[LXVI/0082]
lagert. Auch werden wir ſpäter hervorzuheben haben, wie
dieſe Gießener Stimmungen Büchner's einen wichtigen Com-
mentar zu jenem Werke bilden, wie es bedeutungsvoll iſt,
daß er viele Stellen aus ſeinen Gießener Briefen dann faſt
ungeändert in ſein Werk hinüber genommen. Hier haben wir
nur kurz anzudeuten, wie ſich jene Geſchichtsauffaſſung in
ihm erklärt. Die Ophtalmologen berichten von einer Krank-
heit, in welcher das Auge die Umriſſe der Gegenſtände viel
ſchärfer ſieht, als in normalem Zuſtande, nur daß es gleich-
zeitig die Fähigkeit verliert, leuchtende Farben zu unter-
ſcheiden; es ſieht Alles ſcharf, aber Grau in Grau. Büchner
war älter und reifer geworden, er gewann einen durchdrin-
genden Blick für Charaktere und Verhältniſſe der Geſchichte,
aber ſeine tiefe Melancholie bewirkte es, daß ſie düſter und
farblos an ihm vorbeizogen, aus Nacht in Nacht ...
In dieſe Wirrniß ſeeliſcher Qualen, welche über den
gemüthstiefen Jüngling hereingebrochen, fiel von außen kein
tröſtendes Licht. Selbſt der Gedanke an die Braut weckte
ihm nur die ſchmerzliche Empfindung, daß er ſie miſſen mußte.
Man wird in dieſer Trennung von der Geliebten nicht die
Hauptquellen ſeiner troſtloſen Gemüthsſtimmung erblicken
dürfen, aber daß dieſer Umſtand dazu beigetragen, ihn zu
verſtimmen, ſeine Energie zu lähmen und ihn hilflos ſeinen
ſelbſtquäleriſchen Gedanken preiszugeben, wird Niemand be-
zweifeln, der ſeine Briefe an Minna lieſt. (S. 371-78)
Glühendſte Liebe, ſchmerzlichſte Sehnſucht ſprechen aus jeder
Zeile. Einige bezeichnende Stellen haben wir bereits oben
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riſiren. Wer dieſe merkwürdigen Briefe unbefangen auf ſich
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/82>, abgerufen am 26.11.2024.
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