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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Paris Bordone. Tintoretto.

In der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, als alle andern
Schulen in den tiefsten Verfall gerathen waren, hielt sich die vene-
zianische noch in einer bedeutenden Höhe durch die grössere Vernunft
der Besteller, durch die Unerschöpflichkeit des Naturalismus und durch
die fortdauernde Praxis der Reizmittel des Colorites. Trotzdem macht
sie jetzt einen wesentlich andern Eindruck. Wir versparen das Werk
der ganzen Schule, die Ausmalung des Dogenpalastes, auf das Ende
und nennen hier zuerst die übrigen Werke der betreffenden Künstler.

Der erste, welcher der Schule eine neue Richtung gab, war Ja-
copo Tintoretto
(eigentlich Robusti, 1512--1594). Früher Schüler
Tizians und von Hause aus sehr reich begabt, scheint er ganz richtig
empfunden zu haben, woran es in Venedig fehlte, und drängte nun
auf eine mächtig bewegte, dramatische Historienmalerei hin. Er stu-
dirte Michelangelo, copirte auch bei künstlichem Licht nach Gypsab-
güssen und Modellen, nicht um seine venezianische Formenbildung zu
idealisiren, sondern um sie ganz frei und gelenk zu machen für jede
Aufgabe und um ihr durch die wirksamsten Lichteffecte eine neue
Bedeutung zu geben. Glücklicherweise blieb er dabei in seinem tief-
sten Wesen Naturalist. Jene Verschleppung der Manieren der römi-
schen Schule blieb wenigstens der guten Stadt Venedig erspart. Unter
diesen Umständen büsste er bloss das venezianische Colorit in vielen
seiner Werke ein, als welches mit der starkschattigen Modellirung an
sich unverträglich ist, auch vielleicht bei Tintoretto technischen Neue-
rungen unterliegen musste. Man darf sich wohl wundern, dass in so
vielen Fällen seine Farbe überhaupt gerettet, ja dass ein Helldunkel
vorhanden ist. Manches freilich erscheint ganz entfärbt, dumpf, bleiig.
-- War er nun aber der Poet, welcher das Recht gehabt hätte zu
seinen grossen Neuerungen? Es steckte in ihm neben vielem Grossen
doch auch eine gewisse Roheit und Barbarei der Empfindung; selbst
seine künstlerische Moralität schwankte oft, sodass er bis in die ge-
wissenloseste Sudelei versinken konnte. Es fehlt ihm die höhere Ge-
setzlichkeit, die der Künstler, besonders bei Wagnissen und Neuerun-
gen, sich selber geben muss. Bei seinen ungeheuern Unternehmungen,
die an bemaltem Quadratinhalt vielleicht das Zehnfache von dem aus-
machen, was die Frucht von Tizians hundertjährigem Leben ist, kommt

Paris Bordone. Tintoretto.

In der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, als alle andern
Schulen in den tiefsten Verfall gerathen waren, hielt sich die vene-
zianische noch in einer bedeutenden Höhe durch die grössere Vernunft
der Besteller, durch die Unerschöpflichkeit des Naturalismus und durch
die fortdauernde Praxis der Reizmittel des Colorites. Trotzdem macht
sie jetzt einen wesentlich andern Eindruck. Wir versparen das Werk
der ganzen Schule, die Ausmalung des Dogenpalastes, auf das Ende
und nennen hier zuerst die übrigen Werke der betreffenden Künstler.

Der erste, welcher der Schule eine neue Richtung gab, war Ja-
copo Tintoretto
(eigentlich Robusti, 1512—1594). Früher Schüler
Tizians und von Hause aus sehr reich begabt, scheint er ganz richtig
empfunden zu haben, woran es in Venedig fehlte, und drängte nun
auf eine mächtig bewegte, dramatische Historienmalerei hin. Er stu-
dirte Michelangelo, copirte auch bei künstlichem Licht nach Gypsab-
güssen und Modellen, nicht um seine venezianische Formenbildung zu
idealisiren, sondern um sie ganz frei und gelenk zu machen für jede
Aufgabe und um ihr durch die wirksamsten Lichteffecte eine neue
Bedeutung zu geben. Glücklicherweise blieb er dabei in seinem tief-
sten Wesen Naturalist. Jene Verschleppung der Manieren der römi-
schen Schule blieb wenigstens der guten Stadt Venedig erspart. Unter
diesen Umständen büsste er bloss das venezianische Colorit in vielen
seiner Werke ein, als welches mit der starkschattigen Modellirung an
sich unverträglich ist, auch vielleicht bei Tintoretto technischen Neue-
rungen unterliegen musste. Man darf sich wohl wundern, dass in so
vielen Fällen seine Farbe überhaupt gerettet, ja dass ein Helldunkel
vorhanden ist. Manches freilich erscheint ganz entfärbt, dumpf, bleiig.
— War er nun aber der Poet, welcher das Recht gehabt hätte zu
seinen grossen Neuerungen? Es steckte in ihm neben vielem Grossen
doch auch eine gewisse Roheit und Barbarei der Empfindung; selbst
seine künstlerische Moralität schwankte oft, sodass er bis in die ge-
wissenloseste Sudelei versinken konnte. Es fehlt ihm die höhere Ge-
setzlichkeit, die der Künstler, besonders bei Wagnissen und Neuerun-
gen, sich selber geben muss. Bei seinen ungeheuern Unternehmungen,
die an bemaltem Quadratinhalt vielleicht das Zehnfache von dem aus-
machen, was die Frucht von Tizians hundertjährigem Leben ist, kommt

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[983/1005] Paris Bordone. Tintoretto. In der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, als alle andern Schulen in den tiefsten Verfall gerathen waren, hielt sich die vene- zianische noch in einer bedeutenden Höhe durch die grössere Vernunft der Besteller, durch die Unerschöpflichkeit des Naturalismus und durch die fortdauernde Praxis der Reizmittel des Colorites. Trotzdem macht sie jetzt einen wesentlich andern Eindruck. Wir versparen das Werk der ganzen Schule, die Ausmalung des Dogenpalastes, auf das Ende und nennen hier zuerst die übrigen Werke der betreffenden Künstler. Der erste, welcher der Schule eine neue Richtung gab, war Ja- copo Tintoretto (eigentlich Robusti, 1512—1594). Früher Schüler Tizians und von Hause aus sehr reich begabt, scheint er ganz richtig empfunden zu haben, woran es in Venedig fehlte, und drängte nun auf eine mächtig bewegte, dramatische Historienmalerei hin. Er stu- dirte Michelangelo, copirte auch bei künstlichem Licht nach Gypsab- güssen und Modellen, nicht um seine venezianische Formenbildung zu idealisiren, sondern um sie ganz frei und gelenk zu machen für jede Aufgabe und um ihr durch die wirksamsten Lichteffecte eine neue Bedeutung zu geben. Glücklicherweise blieb er dabei in seinem tief- sten Wesen Naturalist. Jene Verschleppung der Manieren der römi- schen Schule blieb wenigstens der guten Stadt Venedig erspart. Unter diesen Umständen büsste er bloss das venezianische Colorit in vielen seiner Werke ein, als welches mit der starkschattigen Modellirung an sich unverträglich ist, auch vielleicht bei Tintoretto technischen Neue- rungen unterliegen musste. Man darf sich wohl wundern, dass in so vielen Fällen seine Farbe überhaupt gerettet, ja dass ein Helldunkel vorhanden ist. Manches freilich erscheint ganz entfärbt, dumpf, bleiig. — War er nun aber der Poet, welcher das Recht gehabt hätte zu seinen grossen Neuerungen? Es steckte in ihm neben vielem Grossen doch auch eine gewisse Roheit und Barbarei der Empfindung; selbst seine künstlerische Moralität schwankte oft, sodass er bis in die ge- wissenloseste Sudelei versinken konnte. Es fehlt ihm die höhere Ge- setzlichkeit, die der Künstler, besonders bei Wagnissen und Neuerun- gen, sich selber geben muss. Bei seinen ungeheuern Unternehmungen, die an bemaltem Quadratinhalt vielleicht das Zehnfache von dem aus- machen, was die Frucht von Tizians hundertjährigem Leben ist, kommt

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 983. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/1005>, abgerufen am 05.12.2024.