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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Architektur von 1540 bis 1580.
gekannt wie er. Die Frucht hievon war, dass er das Ganze und die
wirksame Aufeinanderfolge der einzelnen Glieder des antiken Binnen-
raumes (Säulenstellungen, Pilaster, Nischen u. s. w.) mit einer Sicher-
heit und Originalität für jeden einzelnen Fall neu und anders repro-
duciren konnte wie kein Zeitgenosse. -- Im Detail hielt er sich fern
von der ornamentalen Pracht der Kaiserbauten; sei es, dass er eine
Verdunkelung des Hauptgedankens durch dieselbe fürchtete, oder dass er
die vorhandenen Mittel lieber auf die Grossartigkeit der Anlage wandte,
oder dass er dem frühern Alterthum auf diese Weise näher zu kommen
hoffte. Seine Capitäle, Gesimse u. s. w. sind meist einfach, das Vegetabi-
lische möglichst beschränkt, die Consolen ohne Unterblätter u. s. w. Oft
entsteht dadurch ein Eindruck des Nüchternen und Kalten, wie er
gerade auch den frühern Römerbauten mag eigen gewesen sein; allein
das Detail wird wenigstens nie verachtet und barock gemisshandelt,
wie bei den Spätern; ein hoher Respect vor dem Überlieferten schützte
den Meister vor den Abwegen.

Er ist der letzte und vielleicht höchste unter denjenigen Archi-
tekten des XVI. Jahrhunderts, welche in der Kunst der Proportionen
und Dispositionen gross und eigenthümlich gewesen sind. Was bei
der Einleitung zu dieser Periode gesagt wurde, kann hier mit ganz
besonderer Beziehung auf ihn zum Schlusse wiederholt werden: die
Verhältnisse sind hier nicht streng organischen, nicht constructiven
Ursprunges und können es bei einem abgeleiteten Styl nicht sein;
gleichwohl bilden sie ein echtes künstlerisches Element, das seine
sehr bestimmte Wirkung auf den Beschauer äussert und das aus-
gebildetste Gefühl im Künstler selbst voraussetzt. Wir dürfen bei
unserer jetzigen Kenntniss der echten griechischen Bauordnungen die
copirten römischen Einzelformen Palladio's völlig verschmähen, aber
derjenige Baumeister muss noch geboren werden, welcher ihm in der
Raumbehandlung -- sowohl der Grundfläche als des Aufrisses --
irgendwie gewachsen wäre. Allerdings liess ihm bei den Palästen
der vicentinische Adel eine Freiheit, wie sie jetzt Keinem mehr ge-
gönnt wird; die Bequemlichkeit wurde der Schönheit des Grundrisses,
der Fassade und des Hofes mannigfach aufgeopfert. Um diesen Preis
erhielt Vicenza und die Umgegend eine Anzahl von Gebäuden, welche

Architektur von 1540 bis 1580.
gekannt wie er. Die Frucht hievon war, dass er das Ganze und die
wirksame Aufeinanderfolge der einzelnen Glieder des antiken Binnen-
raumes (Säulenstellungen, Pilaster, Nischen u. s. w.) mit einer Sicher-
heit und Originalität für jeden einzelnen Fall neu und anders repro-
duciren konnte wie kein Zeitgenosse. — Im Detail hielt er sich fern
von der ornamentalen Pracht der Kaiserbauten; sei es, dass er eine
Verdunkelung des Hauptgedankens durch dieselbe fürchtete, oder dass er
die vorhandenen Mittel lieber auf die Grossartigkeit der Anlage wandte,
oder dass er dem frühern Alterthum auf diese Weise näher zu kommen
hoffte. Seine Capitäle, Gesimse u. s. w. sind meist einfach, das Vegetabi-
lische möglichst beschränkt, die Consolen ohne Unterblätter u. s. w. Oft
entsteht dadurch ein Eindruck des Nüchternen und Kalten, wie er
gerade auch den frühern Römerbauten mag eigen gewesen sein; allein
das Detail wird wenigstens nie verachtet und barock gemisshandelt,
wie bei den Spätern; ein hoher Respect vor dem Überlieferten schützte
den Meister vor den Abwegen.

Er ist der letzte und vielleicht höchste unter denjenigen Archi-
tekten des XVI. Jahrhunderts, welche in der Kunst der Proportionen
und Dispositionen gross und eigenthümlich gewesen sind. Was bei
der Einleitung zu dieser Periode gesagt wurde, kann hier mit ganz
besonderer Beziehung auf ihn zum Schlusse wiederholt werden: die
Verhältnisse sind hier nicht streng organischen, nicht constructiven
Ursprunges und können es bei einem abgeleiteten Styl nicht sein;
gleichwohl bilden sie ein echtes künstlerisches Element, das seine
sehr bestimmte Wirkung auf den Beschauer äussert und das aus-
gebildetste Gefühl im Künstler selbst voraussetzt. Wir dürfen bei
unserer jetzigen Kenntniss der echten griechischen Bauordnungen die
copirten römischen Einzelformen Palladio’s völlig verschmähen, aber
derjenige Baumeister muss noch geboren werden, welcher ihm in der
Raumbehandlung — sowohl der Grundfläche als des Aufrisses —
irgendwie gewachsen wäre. Allerdings liess ihm bei den Palästen
der vicentinische Adel eine Freiheit, wie sie jetzt Keinem mehr ge-
gönnt wird; die Bequemlichkeit wurde der Schönheit des Grundrisses,
der Fassade und des Hofes mannigfach aufgeopfert. Um diesen Preis
erhielt Vicenza und die Umgegend eine Anzahl von Gebäuden, welche

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[356/0378] Architektur von 1540 bis 1580. gekannt wie er. Die Frucht hievon war, dass er das Ganze und die wirksame Aufeinanderfolge der einzelnen Glieder des antiken Binnen- raumes (Säulenstellungen, Pilaster, Nischen u. s. w.) mit einer Sicher- heit und Originalität für jeden einzelnen Fall neu und anders repro- duciren konnte wie kein Zeitgenosse. — Im Detail hielt er sich fern von der ornamentalen Pracht der Kaiserbauten; sei es, dass er eine Verdunkelung des Hauptgedankens durch dieselbe fürchtete, oder dass er die vorhandenen Mittel lieber auf die Grossartigkeit der Anlage wandte, oder dass er dem frühern Alterthum auf diese Weise näher zu kommen hoffte. Seine Capitäle, Gesimse u. s. w. sind meist einfach, das Vegetabi- lische möglichst beschränkt, die Consolen ohne Unterblätter u. s. w. Oft entsteht dadurch ein Eindruck des Nüchternen und Kalten, wie er gerade auch den frühern Römerbauten mag eigen gewesen sein; allein das Detail wird wenigstens nie verachtet und barock gemisshandelt, wie bei den Spätern; ein hoher Respect vor dem Überlieferten schützte den Meister vor den Abwegen. Er ist der letzte und vielleicht höchste unter denjenigen Archi- tekten des XVI. Jahrhunderts, welche in der Kunst der Proportionen und Dispositionen gross und eigenthümlich gewesen sind. Was bei der Einleitung zu dieser Periode gesagt wurde, kann hier mit ganz besonderer Beziehung auf ihn zum Schlusse wiederholt werden: die Verhältnisse sind hier nicht streng organischen, nicht constructiven Ursprunges und können es bei einem abgeleiteten Styl nicht sein; gleichwohl bilden sie ein echtes künstlerisches Element, das seine sehr bestimmte Wirkung auf den Beschauer äussert und das aus- gebildetste Gefühl im Künstler selbst voraussetzt. Wir dürfen bei unserer jetzigen Kenntniss der echten griechischen Bauordnungen die copirten römischen Einzelformen Palladio’s völlig verschmähen, aber derjenige Baumeister muss noch geboren werden, welcher ihm in der Raumbehandlung — sowohl der Grundfläche als des Aufrisses — irgendwie gewachsen wäre. Allerdings liess ihm bei den Palästen der vicentinische Adel eine Freiheit, wie sie jetzt Keinem mehr ge- gönnt wird; die Bequemlichkeit wurde der Schönheit des Grundrisses, der Fassade und des Hofes mannigfach aufgeopfert. Um diesen Preis erhielt Vicenza und die Umgegend eine Anzahl von Gebäuden, welche

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/378>, abgerufen am 05.12.2024.