Der Parnass, das Bild der "Seienden" und Geniessenden. Das Vorrecht des lauten, begeisterten Redens hat nur Homer; das der Töne Apoll; sonst wird bloss geflüstert. (Wer an der Violine Anstoss nimmt, mag nur Rafael selbst zur Verantwortung ziehen, denn eine erzwungene Huldigung für den Ruhm eines damaligen Geigenvirtuo- sen, aus welchem Einige sogar den Kammerdiener des Papstes machen, ist dieser Anachronismus gewiss nicht. Wahrscheinlich gewährte das Instrument dem Maler ein lebendigeres, sprechenderes Motiv für seine Figur als eine antike Lyra hätte thun können.) Das Idealcostum ist hier mit grossem Recht auch auf die neuern Dichter ausgedehnt, von welchen nur Dante die unvermeidliche Kaputze zeigt. Der gemein- same Mantel und der gemeinsame Lorbeer heben die Dichter über das Historische und Wirkliche hinaus. Die Musen sind nicht der Ab- wechselung zu Gefallen unter die Dichter vertheilt, sondern als ihr gemeinsames Leben auf der Höhe des Berges versammelt. Auch sie sind nicht antiquarisch genau charakterisirt; R. malte seine Musen.
Von den beiden Ceremonienbildern gegenüber ist das geistliche Recht, d. h. die Ertheilung der Decretalen, in dieser kritischen Gattung ein Muster der Composition und Durchführung zu nennen. Der Fi- gurenreichthum ist nur mässig, -- der Ausdruck der Autorität beruht nicht in der Vollständigkeit des Gefolges, überhaupt nicht in der Masse. Die Köpfe sind fast lauter Bildnisse von Zeitgenossen. Man darf annehmen, dass R. sie freiwillig und in künstlerischer Absicht anbrachte. -- Die Allegorie der Prudentia, Temperantia und For- titudo in der Lunette (deren Analyse bei Platner a. a. O. nach- zusehen) ist eine der bestgedachten; im Einzelnen ist nicht Alles ganz lebendig geworden.
Von den allegorischen Frauen am Gewölbe ist die Poesie einer der reinsten und eigensten Gedanken Rafaels. In den übrigen hat er wohl dem Allegoristen, der ihm zur Seite stand, bedeutend nachgeben müssen oder wollen; daher vielleicht auch der Mangel an freudiger Unbefangenheit. Die Eckbilder des Gewölbes, historische Momente in strengerm Styl, beziehen sich jedesmal auf den Inhalt der beiden nächsten Wände; so das herrliche Urtheil Salomonis auf die Ge- rechtigkeit und Weisheit zugleich, der Sündenfall auf die Gerechtigkeit und das Verhältniss zu Gott zugleich. Mit dem Marsyas hat man
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Camera della Segnatura.
Der Parnass, das Bild der „Seienden“ und Geniessenden. Das Vorrecht des lauten, begeisterten Redens hat nur Homer; das der Töne Apoll; sonst wird bloss geflüstert. (Wer an der Violine Anstoss nimmt, mag nur Rafael selbst zur Verantwortung ziehen, denn eine erzwungene Huldigung für den Ruhm eines damaligen Geigenvirtuo- sen, aus welchem Einige sogar den Kammerdiener des Papstes machen, ist dieser Anachronismus gewiss nicht. Wahrscheinlich gewährte das Instrument dem Maler ein lebendigeres, sprechenderes Motiv für seine Figur als eine antike Lyra hätte thun können.) Das Idealcostum ist hier mit grossem Recht auch auf die neuern Dichter ausgedehnt, von welchen nur Dante die unvermeidliche Kaputze zeigt. Der gemein- same Mantel und der gemeinsame Lorbeer heben die Dichter über das Historische und Wirkliche hinaus. Die Musen sind nicht der Ab- wechselung zu Gefallen unter die Dichter vertheilt, sondern als ihr gemeinsames Leben auf der Höhe des Berges versammelt. Auch sie sind nicht antiquarisch genau charakterisirt; R. malte seine Musen.
Von den beiden Ceremonienbildern gegenüber ist das geistliche Recht, d. h. die Ertheilung der Decretalen, in dieser kritischen Gattung ein Muster der Composition und Durchführung zu nennen. Der Fi- gurenreichthum ist nur mässig, — der Ausdruck der Autorität beruht nicht in der Vollständigkeit des Gefolges, überhaupt nicht in der Masse. Die Köpfe sind fast lauter Bildnisse von Zeitgenossen. Man darf annehmen, dass R. sie freiwillig und in künstlerischer Absicht anbrachte. — Die Allegorie der Prudentia, Temperantia und For- titudo in der Lunette (deren Analyse bei Platner a. a. O. nach- zusehen) ist eine der bestgedachten; im Einzelnen ist nicht Alles ganz lebendig geworden.
Von den allegorischen Frauen am Gewölbe ist die Poesie einer der reinsten und eigensten Gedanken Rafaels. In den übrigen hat er wohl dem Allegoristen, der ihm zur Seite stand, bedeutend nachgeben müssen oder wollen; daher vielleicht auch der Mangel an freudiger Unbefangenheit. Die Eckbilder des Gewölbes, historische Momente in strengerm Styl, beziehen sich jedesmal auf den Inhalt der beiden nächsten Wände; so das herrliche Urtheil Salomonis auf die Ge- rechtigkeit und Weisheit zugleich, der Sündenfall auf die Gerechtigkeit und das Verhältniss zu Gott zugleich. Mit dem Marsyas hat man
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Camera della Segnatura.
Der Parnass, das Bild der „Seienden“ und Geniessenden. Das
Vorrecht des lauten, begeisterten Redens hat nur Homer; das der
Töne Apoll; sonst wird bloss geflüstert. (Wer an der Violine Anstoss
nimmt, mag nur Rafael selbst zur Verantwortung ziehen, denn eine
erzwungene Huldigung für den Ruhm eines damaligen Geigenvirtuo-
sen, aus welchem Einige sogar den Kammerdiener des Papstes machen,
ist dieser Anachronismus gewiss nicht. Wahrscheinlich gewährte das
Instrument dem Maler ein lebendigeres, sprechenderes Motiv für seine
Figur als eine antike Lyra hätte thun können.) Das Idealcostum ist
hier mit grossem Recht auch auf die neuern Dichter ausgedehnt, von
welchen nur Dante die unvermeidliche Kaputze zeigt. Der gemein-
same Mantel und der gemeinsame Lorbeer heben die Dichter über das
Historische und Wirkliche hinaus. Die Musen sind nicht der Ab-
wechselung zu Gefallen unter die Dichter vertheilt, sondern als ihr
gemeinsames Leben auf der Höhe des Berges versammelt. Auch sie
sind nicht antiquarisch genau charakterisirt; R. malte seine Musen.
Von den beiden Ceremonienbildern gegenüber ist das geistliche
Recht, d. h. die Ertheilung der Decretalen, in dieser kritischen Gattung
ein Muster der Composition und Durchführung zu nennen. Der Fi-
gurenreichthum ist nur mässig, — der Ausdruck der Autorität beruht
nicht in der Vollständigkeit des Gefolges, überhaupt nicht in der
Masse. Die Köpfe sind fast lauter Bildnisse von Zeitgenossen. Man
darf annehmen, dass R. sie freiwillig und in künstlerischer Absicht
anbrachte. — Die Allegorie der Prudentia, Temperantia und For-
titudo in der Lunette (deren Analyse bei Platner a. a. O. nach-
zusehen) ist eine der bestgedachten; im Einzelnen ist nicht Alles ganz
lebendig geworden.
Von den allegorischen Frauen am Gewölbe ist die Poesie einer
der reinsten und eigensten Gedanken Rafaels. In den übrigen hat er
wohl dem Allegoristen, der ihm zur Seite stand, bedeutend nachgeben
müssen oder wollen; daher vielleicht auch der Mangel an freudiger
Unbefangenheit. Die Eckbilder des Gewölbes, historische Momente in
strengerm Styl, beziehen sich jedesmal auf den Inhalt der beiden
nächsten Wände; so das herrliche Urtheil Salomonis auf die Ge-
rechtigkeit und Weisheit zugleich, der Sündenfall auf die Gerechtigkeit
und das Verhältniss zu Gott zugleich. Mit dem Marsyas hat man
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 915. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/937>, abgerufen am 05.12.2024.
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