einige Noth und es bedarf einer entfernten Beziehung aus Dante um ihn ausser der Poesie auch mit der Theologie in Verbindung zu brin- gen. Die Eva im Sündenfall ist ein Hauptbeleg für die Bildung des Nackten in R.'s mittlerer Zeit. Ebenso der Henker im Urtheil des Salomo.
Die Sockelbilder, grossentheils erst von Perin del Vaga an der Stelle eines untergegangenen Getäfels componirt und ausgeführt und später ganz übermalt, zeigen noch, in welchem Sinne R. die decorative Wirkung des ganzen Saales verstanden wissen wollte. Ihre Com- position ist zum Theil ausserordentlich schön, aber in kleinen Abbil- dungen eben so geniessbar als an Ort und Stelle. (Von R. nur die- jenigen unter dem Parnass.)
Wären wir nur über die nähern Umstände der Entstehung dieser Fresken nicht so völlig im Ungewissen. Die grossen Fragen: wie viel wurde dem Maler vorgeschrieben? was that er selbst hinzu? für welche Theile hat er vielleicht nur mit Mühe Erlaubniss erhalten? welche Zumuthungen hat er abgewiesen? -- diese Fragen sind nie zu beant- worten. Es ist unbekannt, mit wem er in nächster Instanz zu thun hatte. So viel aber geht aus den Werken selbst hervor, dass die rein künstlerischen Beweggründe im Einzelnen meist die Oberhand behielten. Wenn man in andern Bildern jener Zeit, bei Mantegna, Pinturicchio, Sandro u. A., die Unersättlichkeit der Zeitgenossen an Allegorien und Symbolen aller Art kennen lernt, so wird es zur Ge- wissheit, dass Rafael aus eigenen Kräften Mass hielt, wählte, über- und unterordnete. Welche Kämpfe kann die untere Hälfte der Disputa gekostet haben! wenn z. B. irgend ein Theologe sich für vollständige Darstellung aller grossen Kirchenlehrer und Ordensstifter verwandte! -- oder wenn Irgendjemandes Lieblingsphilosoph oder Lieblingsdichter durchaus in die Schule von Athen oder auf den Parnass gebracht werden sollte! -- anderer Möglichkeiten nicht zu gedenken.
Vielleicht die einzige ganz müssigscheinende Figur in diesem Saal ist der junge Herzog von Urbino, welcher in der Mitte der linken Hälfte der Schule von Athen steht. Bei genauerer Betrachtung findet man dass er nicht nur mit seinem weissen Gewande malerisch noth-
Malerei des XVI. Jahrhunderts. Rafael.
einige Noth und es bedarf einer entfernten Beziehung aus Dante um ihn ausser der Poesie auch mit der Theologie in Verbindung zu brin- gen. Die Eva im Sündenfall ist ein Hauptbeleg für die Bildung des Nackten in R.’s mittlerer Zeit. Ebenso der Henker im Urtheil des Salomo.
Die Sockelbilder, grossentheils erst von Perin del Vaga an der Stelle eines untergegangenen Getäfels componirt und ausgeführt und später ganz übermalt, zeigen noch, in welchem Sinne R. die decorative Wirkung des ganzen Saales verstanden wissen wollte. Ihre Com- position ist zum Theil ausserordentlich schön, aber in kleinen Abbil- dungen eben so geniessbar als an Ort und Stelle. (Von R. nur die- jenigen unter dem Parnass.)
Wären wir nur über die nähern Umstände der Entstehung dieser Fresken nicht so völlig im Ungewissen. Die grossen Fragen: wie viel wurde dem Maler vorgeschrieben? was that er selbst hinzu? für welche Theile hat er vielleicht nur mit Mühe Erlaubniss erhalten? welche Zumuthungen hat er abgewiesen? — diese Fragen sind nie zu beant- worten. Es ist unbekannt, mit wem er in nächster Instanz zu thun hatte. So viel aber geht aus den Werken selbst hervor, dass die rein künstlerischen Beweggründe im Einzelnen meist die Oberhand behielten. Wenn man in andern Bildern jener Zeit, bei Mantegna, Pinturicchio, Sandro u. A., die Unersättlichkeit der Zeitgenossen an Allegorien und Symbolen aller Art kennen lernt, so wird es zur Ge- wissheit, dass Rafael aus eigenen Kräften Mass hielt, wählte, über- und unterordnete. Welche Kämpfe kann die untere Hälfte der Disputa gekostet haben! wenn z. B. irgend ein Theologe sich für vollständige Darstellung aller grossen Kirchenlehrer und Ordensstifter verwandte! — oder wenn Irgendjemandes Lieblingsphilosoph oder Lieblingsdichter durchaus in die Schule von Athen oder auf den Parnass gebracht werden sollte! — anderer Möglichkeiten nicht zu gedenken.
Vielleicht die einzige ganz müssigscheinende Figur in diesem Saal ist der junge Herzog von Urbino, welcher in der Mitte der linken Hälfte der Schule von Athen steht. Bei genauerer Betrachtung findet man dass er nicht nur mit seinem weissen Gewande malerisch noth-
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Malerei des XVI. Jahrhunderts. Rafael.
einige Noth und es bedarf einer entfernten Beziehung aus Dante um
ihn ausser der Poesie auch mit der Theologie in Verbindung zu brin-
gen. Die Eva im Sündenfall ist ein Hauptbeleg für die Bildung des
Nackten in R.’s mittlerer Zeit. Ebenso der Henker im Urtheil des
Salomo.
Die Sockelbilder, grossentheils erst von Perin del Vaga an der
Stelle eines untergegangenen Getäfels componirt und ausgeführt und
später ganz übermalt, zeigen noch, in welchem Sinne R. die decorative
Wirkung des ganzen Saales verstanden wissen wollte. Ihre Com-
position ist zum Theil ausserordentlich schön, aber in kleinen Abbil-
dungen eben so geniessbar als an Ort und Stelle. (Von R. nur die-
jenigen unter dem Parnass.)
Wären wir nur über die nähern Umstände der Entstehung dieser
Fresken nicht so völlig im Ungewissen. Die grossen Fragen: wie viel
wurde dem Maler vorgeschrieben? was that er selbst hinzu? für welche
Theile hat er vielleicht nur mit Mühe Erlaubniss erhalten? welche
Zumuthungen hat er abgewiesen? — diese Fragen sind nie zu beant-
worten. Es ist unbekannt, mit wem er in nächster Instanz zu thun
hatte. So viel aber geht aus den Werken selbst hervor, dass die
rein künstlerischen Beweggründe im Einzelnen meist die Oberhand
behielten. Wenn man in andern Bildern jener Zeit, bei Mantegna,
Pinturicchio, Sandro u. A., die Unersättlichkeit der Zeitgenossen an
Allegorien und Symbolen aller Art kennen lernt, so wird es zur Ge-
wissheit, dass Rafael aus eigenen Kräften Mass hielt, wählte, über-
und unterordnete. Welche Kämpfe kann die untere Hälfte der Disputa
gekostet haben! wenn z. B. irgend ein Theologe sich für vollständige
Darstellung aller grossen Kirchenlehrer und Ordensstifter verwandte!
— oder wenn Irgendjemandes Lieblingsphilosoph oder Lieblingsdichter
durchaus in die Schule von Athen oder auf den Parnass gebracht
werden sollte! — anderer Möglichkeiten nicht zu gedenken.
Vielleicht die einzige ganz müssigscheinende Figur in diesem
Saal ist der junge Herzog von Urbino, welcher in der Mitte der linken
Hälfte der Schule von Athen steht. Bei genauerer Betrachtung findet
man dass er nicht nur mit seinem weissen Gewande malerisch noth-
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 916. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/938>, abgerufen am 05.12.2024.
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