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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Camera della Segnatura.
wendig, sondern auch als neutrale Gestalt zwischen der obern und
der untern Gruppe unentbehrlich ist. Und was will das stille Lächeln
dieses wunderbaren Antlitzes sagen? Es ist das siegreiche Bewusst-
sein der Schönheit, dass sie neben aller Erkenntniss ihre Stelle in
dieser bunten Welt behaupten werde.


Neben der Decke der sixtinischen Capelle ist die Camera della
Segnatura, welche fast genau zur gleichen Zeit gemalt wurde, das
erste umfassende Kunstwerk von reinem Gleichgewicht der Form und
des Gedankens. Noch die trefflichsten Florentiner des XV. Jahrh.
(Lionardo ausgenommen) hatten sich durch den Reichthum an Zu-
thaten (Nebenpersonen, überflüssige Gewandmotive, Prunk der Hinter-
gründe u. s. w.) stören lassen; ihr Vieles hebt sich gegenseitig auf;
ihre scharfe Charakteristik vertheilt die Accente zu gleichmässig über
das Ganze; Fra Bartolommeo, der erste grosse Componist neben Lio-
nardo, bewegte sich in einem engbegrenzten Kreise und sein Lebens-
gefühl war seiner Formenauffassung nicht völlig gewachsen. -- Bei
Rafael zuerst ist die Form durchaus schön, edel und zugleich geistig
belebt ohne Nachtheil des Ganzen. Kein Detail präsentirt sich, drängt
sich vor; der Künstler kennt genau das zarte Leben seiner grossen
symbolischen Gegenstände und weiss, wie leicht das Einzel-Interes-
sante das Ganze übertönt. Und dennoch sind seine einzelnen Figuren
das wichtigste Studium aller seitherigen Malerei geworden. Es lässt
sich kein besserer Rath ertheilen, als dass man sie (wo nöthig, auch
mit bewaffnetem Auge) so oft und so vollständig als möglich betrachte
und nach Kräften auswendig lerne. Die Behandlung der Gewänder,
der Ausdruck der Bewegung in denselben, die Aufeinanderfolge der
Farben und Lichter bieten wiederum eine unerschöpfliche Quelle des
Genusses.


Die Stanza d'Eliodoro, wahrscheinlich ganz oder fast ganza
eigenhändig von Rafael ausgemalt in den Jahren 1511--1514, be-
zeichnet den grossen Schritt in das Historische. Es ist gewagt, aber
erlaubt zu vermuthen, dass er sich nach den dramatisch-beweg-

Camera della Segnatura.
wendig, sondern auch als neutrale Gestalt zwischen der obern und
der untern Gruppe unentbehrlich ist. Und was will das stille Lächeln
dieses wunderbaren Antlitzes sagen? Es ist das siegreiche Bewusst-
sein der Schönheit, dass sie neben aller Erkenntniss ihre Stelle in
dieser bunten Welt behaupten werde.


Neben der Decke der sixtinischen Capelle ist die Camera della
Segnatura, welche fast genau zur gleichen Zeit gemalt wurde, das
erste umfassende Kunstwerk von reinem Gleichgewicht der Form und
des Gedankens. Noch die trefflichsten Florentiner des XV. Jahrh.
(Lionardo ausgenommen) hatten sich durch den Reichthum an Zu-
thaten (Nebenpersonen, überflüssige Gewandmotive, Prunk der Hinter-
gründe u. s. w.) stören lassen; ihr Vieles hebt sich gegenseitig auf;
ihre scharfe Charakteristik vertheilt die Accente zu gleichmässig über
das Ganze; Fra Bartolommeo, der erste grosse Componist neben Lio-
nardo, bewegte sich in einem engbegrenzten Kreise und sein Lebens-
gefühl war seiner Formenauffassung nicht völlig gewachsen. — Bei
Rafael zuerst ist die Form durchaus schön, edel und zugleich geistig
belebt ohne Nachtheil des Ganzen. Kein Detail präsentirt sich, drängt
sich vor; der Künstler kennt genau das zarte Leben seiner grossen
symbolischen Gegenstände und weiss, wie leicht das Einzel-Interes-
sante das Ganze übertönt. Und dennoch sind seine einzelnen Figuren
das wichtigste Studium aller seitherigen Malerei geworden. Es lässt
sich kein besserer Rath ertheilen, als dass man sie (wo nöthig, auch
mit bewaffnetem Auge) so oft und so vollständig als möglich betrachte
und nach Kräften auswendig lerne. Die Behandlung der Gewänder,
der Ausdruck der Bewegung in denselben, die Aufeinanderfolge der
Farben und Lichter bieten wiederum eine unerschöpfliche Quelle des
Genusses.


Die Stanza d’Eliodoro, wahrscheinlich ganz oder fast ganza
eigenhändig von Rafael ausgemalt in den Jahren 1511—1514, be-
zeichnet den grossen Schritt in das Historische. Es ist gewagt, aber
erlaubt zu vermuthen, dass er sich nach den dramatisch-beweg-

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[917/0939] Camera della Segnatura. wendig, sondern auch als neutrale Gestalt zwischen der obern und der untern Gruppe unentbehrlich ist. Und was will das stille Lächeln dieses wunderbaren Antlitzes sagen? Es ist das siegreiche Bewusst- sein der Schönheit, dass sie neben aller Erkenntniss ihre Stelle in dieser bunten Welt behaupten werde. Neben der Decke der sixtinischen Capelle ist die Camera della Segnatura, welche fast genau zur gleichen Zeit gemalt wurde, das erste umfassende Kunstwerk von reinem Gleichgewicht der Form und des Gedankens. Noch die trefflichsten Florentiner des XV. Jahrh. (Lionardo ausgenommen) hatten sich durch den Reichthum an Zu- thaten (Nebenpersonen, überflüssige Gewandmotive, Prunk der Hinter- gründe u. s. w.) stören lassen; ihr Vieles hebt sich gegenseitig auf; ihre scharfe Charakteristik vertheilt die Accente zu gleichmässig über das Ganze; Fra Bartolommeo, der erste grosse Componist neben Lio- nardo, bewegte sich in einem engbegrenzten Kreise und sein Lebens- gefühl war seiner Formenauffassung nicht völlig gewachsen. — Bei Rafael zuerst ist die Form durchaus schön, edel und zugleich geistig belebt ohne Nachtheil des Ganzen. Kein Detail präsentirt sich, drängt sich vor; der Künstler kennt genau das zarte Leben seiner grossen symbolischen Gegenstände und weiss, wie leicht das Einzel-Interes- sante das Ganze übertönt. Und dennoch sind seine einzelnen Figuren das wichtigste Studium aller seitherigen Malerei geworden. Es lässt sich kein besserer Rath ertheilen, als dass man sie (wo nöthig, auch mit bewaffnetem Auge) so oft und so vollständig als möglich betrachte und nach Kräften auswendig lerne. Die Behandlung der Gewänder, der Ausdruck der Bewegung in denselben, die Aufeinanderfolge der Farben und Lichter bieten wiederum eine unerschöpfliche Quelle des Genusses. Die Stanza d’Eliodoro, wahrscheinlich ganz oder fast ganz eigenhändig von Rafael ausgemalt in den Jahren 1511—1514, be- zeichnet den grossen Schritt in das Historische. Es ist gewagt, aber erlaubt zu vermuthen, dass er sich nach den dramatisch-beweg- a

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 917. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/939>, abgerufen am 05.12.2024.