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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Giulio Romano.
uns ganz nahe liegt. Die Seele des modernen Menschen hat im Ge-
biet des Form-Schönen keinen höhern Herrn und Hüter als ihn. Denn
das Alterthum ist zerstückelt auf unsere Zeit gekommen und sein Geist
ist doch nie unser Geist.

Die höchste persönliche Eigenschaft Rafaels war, wie zum Schluss
wiederholt werden muss, nicht ästhetischer, sondern sittlicher Art:
nämlich die grosse Ehrlichkeit und der starke Wille, womit er in je-
dem Augenblick nach demjenigen Schönen rang, welches er eben jetzt
als das höchste Schöne vor sich sah. Er hat nie auf dem einmal Ge-
wonnenen ausgeruht und es als bequemen Besitz weiter verbraucht.
Diese sittliche Eigenschaft wäre ihm bei längerem Leben auch bis ins
Greisenalter verblieben. Wenn man die colossale Schöpfungskraft ge-
rade seiner letzten Jahre sich ins Bewusstsein ruft, so wird man inne,
was durch seinen frühen Tod auf ewig verloren gegangen ist.


Die Schüler Rafaels bildeten sich an den grössten Unternehmun-
gen seiner letzten Jahre. War es ein Glück für ihre eigene Thätig-
keit, dass sie von Anfang an unter dem Eindrucke seiner grossen
Auffassung der Dinge standen? konnten sie noch mit eigener naiver
Art an ihre Gegenstände gehen? und welche Wirkung musste es auf
sie ausüben, wenn sie aus dem Gerede der Welt entnahmen, was man
eigentlich an ihrem Meister bewunderte? In letzter Linie kam es dabei
sehr auf ihren Charakter an.

Der bedeutendste darunter ist Giulio Romano (geb. um 1492,
st. 1546). Eine leichte, unermüdliche Phantasie, welche auch Streif-
züge in das Gebiet des Naturalismus nicht verschmäht und sich vor-
zugsweise in den neutralen Gegenständen, in den Mythen des Alter-
thums zu ergehen liebt, zu der kirchlichen Malerei aber gar keine
innerliche Beziehung mehr hat und einer grenzenlosen Verwilderung,
einer öden Schnellproduction anheimfallen musste.

Frühe decorative Malereien: im Pal. Borghese (drei abgesägtea
Stücke aus der Villa Lante, mit altrömischen Geschichten in Bezie-

Giulio Romano.
uns ganz nahe liegt. Die Seele des modernen Menschen hat im Ge-
biet des Form-Schönen keinen höhern Herrn und Hüter als ihn. Denn
das Alterthum ist zerstückelt auf unsere Zeit gekommen und sein Geist
ist doch nie unser Geist.

Die höchste persönliche Eigenschaft Rafaels war, wie zum Schluss
wiederholt werden muss, nicht ästhetischer, sondern sittlicher Art:
nämlich die grosse Ehrlichkeit und der starke Wille, womit er in je-
dem Augenblick nach demjenigen Schönen rang, welches er eben jetzt
als das höchste Schöne vor sich sah. Er hat nie auf dem einmal Ge-
wonnenen ausgeruht und es als bequemen Besitz weiter verbraucht.
Diese sittliche Eigenschaft wäre ihm bei längerem Leben auch bis ins
Greisenalter verblieben. Wenn man die colossale Schöpfungskraft ge-
rade seiner letzten Jahre sich ins Bewusstsein ruft, so wird man inne,
was durch seinen frühen Tod auf ewig verloren gegangen ist.


Die Schüler Rafaels bildeten sich an den grössten Unternehmun-
gen seiner letzten Jahre. War es ein Glück für ihre eigene Thätig-
keit, dass sie von Anfang an unter dem Eindrucke seiner grossen
Auffassung der Dinge standen? konnten sie noch mit eigener naiver
Art an ihre Gegenstände gehen? und welche Wirkung musste es auf
sie ausüben, wenn sie aus dem Gerede der Welt entnahmen, was man
eigentlich an ihrem Meister bewunderte? In letzter Linie kam es dabei
sehr auf ihren Charakter an.

Der bedeutendste darunter ist Giulio Romano (geb. um 1492,
st. 1546). Eine leichte, unermüdliche Phantasie, welche auch Streif-
züge in das Gebiet des Naturalismus nicht verschmäht und sich vor-
zugsweise in den neutralen Gegenständen, in den Mythen des Alter-
thums zu ergehen liebt, zu der kirchlichen Malerei aber gar keine
innerliche Beziehung mehr hat und einer grenzenlosen Verwilderung,
einer öden Schnellproduction anheimfallen musste.

Frühe decorative Malereien: im Pal. Borghese (drei abgesägtea
Stücke aus der Villa Lante, mit altrömischen Geschichten in Bezie-

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[935/0957] Giulio Romano. uns ganz nahe liegt. Die Seele des modernen Menschen hat im Ge- biet des Form-Schönen keinen höhern Herrn und Hüter als ihn. Denn das Alterthum ist zerstückelt auf unsere Zeit gekommen und sein Geist ist doch nie unser Geist. Die höchste persönliche Eigenschaft Rafaels war, wie zum Schluss wiederholt werden muss, nicht ästhetischer, sondern sittlicher Art: nämlich die grosse Ehrlichkeit und der starke Wille, womit er in je- dem Augenblick nach demjenigen Schönen rang, welches er eben jetzt als das höchste Schöne vor sich sah. Er hat nie auf dem einmal Ge- wonnenen ausgeruht und es als bequemen Besitz weiter verbraucht. Diese sittliche Eigenschaft wäre ihm bei längerem Leben auch bis ins Greisenalter verblieben. Wenn man die colossale Schöpfungskraft ge- rade seiner letzten Jahre sich ins Bewusstsein ruft, so wird man inne, was durch seinen frühen Tod auf ewig verloren gegangen ist. Die Schüler Rafaels bildeten sich an den grössten Unternehmun- gen seiner letzten Jahre. War es ein Glück für ihre eigene Thätig- keit, dass sie von Anfang an unter dem Eindrucke seiner grossen Auffassung der Dinge standen? konnten sie noch mit eigener naiver Art an ihre Gegenstände gehen? und welche Wirkung musste es auf sie ausüben, wenn sie aus dem Gerede der Welt entnahmen, was man eigentlich an ihrem Meister bewunderte? In letzter Linie kam es dabei sehr auf ihren Charakter an. Der bedeutendste darunter ist Giulio Romano (geb. um 1492, st. 1546). Eine leichte, unermüdliche Phantasie, welche auch Streif- züge in das Gebiet des Naturalismus nicht verschmäht und sich vor- zugsweise in den neutralen Gegenständen, in den Mythen des Alter- thums zu ergehen liebt, zu der kirchlichen Malerei aber gar keine innerliche Beziehung mehr hat und einer grenzenlosen Verwilderung, einer öden Schnellproduction anheimfallen musste. Frühe decorative Malereien: im Pal. Borghese (drei abgesägte Stücke aus der Villa Lante, mit altrömischen Geschichten in Bezie- a

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 935. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/957>, abgerufen am 20.07.2024.