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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des XVI. Jahrhunderts. Coreggio.
zu modelliren. Bei Coreggio zuerst ist das Helldunkel wesentlich für
den Mitausdruck des malerisch geschlossenen Ganzen; in diesem Strom
von Lichtern und Reflexen liegt gerade der Naturmoment ausgedrückt.
Abgesehen davon wusste Coreggio zuerst, dass die Oberfläche des
menschlichen Körpers im Halblicht und im Reflex den reizendsten
Anblick gewährt.

Seine Farbe ist in der Carnation vollendet und auf eine Weise
aufgetragen, die ein ganz unendliches Studium der Erscheinung in
Luft und Licht voraussetzt. In der Bezeichnung anderer Stoffe raffi-
nirt er nicht; die Harmonie des Ganzen, der Wohllaut der Übergänge
liegt ihm mehr am Herzen.

Das Hauptmerkmal seines Styles aber ist die durchgängige Be-
weglichkeit
seiner Gestalten, ohne welche es für ihn kein Leben
und keine vollständige Räumlichkeit giebt, deren wesentlicher Mass-
stab ja die bewegte und zwar mit dem vollkommenen Schein der Wirk-
lichkeit bewegte, also je nach Umständen rücksichtslos verkürzte
Menschengestalt ist 1). Er zuerst giebt auch den Glorien des Jenseits
einen kubisch messbaren Raum, den er mit gewaltig wogenden Ge-
stalten füllt. -- Diese Beweglichkeit ist aber keine bloss äusserliche,
sondern sie durchdringt die Gestalten von innen heraus; Coreggio er-
räth, kennt und malt die feinsten Regungen des Nervenlebens.

Von grossen Linien, von strenger architektonischer Composition
ist bei ihm nicht die Rede, auch von der grossen, befreienden Schön-
heit nicht. Sinnlich Reizendes giebt er in Fülle. Hie und da ver-
räth sich auch eine tief empfindende Seele, welche vom Wirklichen
ausgehend grosse geistige Geheimnisse offenbart; es giebt Bilder des
Leidens von ihm, welche zwar nicht grossartig, aber durchaus edel,
rührend und mit unendlichem Geist durchgeführt sind. (Von seinem
aChristus am Ölberg eine gute alte Copie in den Uffizien.) Allein es
sind Ausnahmen.


1) Es ist kaum anders möglich, als dass C. das Hauptwerk seines einzigen Vor-
gängers in dieser Richtung, die Halbkuppel des Chores von SS. Apostoli zu
Rom von Melozzo da Forli gekannt habe. (Ansicht Mündlers, von Waa-
gen, Kunstblatt 1851, S. 158 gebilligt.) Sonach hätte er Rom überhaupt gekannt.

Malerei des XVI. Jahrhunderts. Coreggio.
zu modelliren. Bei Coreggio zuerst ist das Helldunkel wesentlich für
den Mitausdruck des malerisch geschlossenen Ganzen; in diesem Strom
von Lichtern und Reflexen liegt gerade der Naturmoment ausgedrückt.
Abgesehen davon wusste Coreggio zuerst, dass die Oberfläche des
menschlichen Körpers im Halblicht und im Reflex den reizendsten
Anblick gewährt.

Seine Farbe ist in der Carnation vollendet und auf eine Weise
aufgetragen, die ein ganz unendliches Studium der Erscheinung in
Luft und Licht voraussetzt. In der Bezeichnung anderer Stoffe raffi-
nirt er nicht; die Harmonie des Ganzen, der Wohllaut der Übergänge
liegt ihm mehr am Herzen.

Das Hauptmerkmal seines Styles aber ist die durchgängige Be-
weglichkeit
seiner Gestalten, ohne welche es für ihn kein Leben
und keine vollständige Räumlichkeit giebt, deren wesentlicher Mass-
stab ja die bewegte und zwar mit dem vollkommenen Schein der Wirk-
lichkeit bewegte, also je nach Umständen rücksichtslos verkürzte
Menschengestalt ist 1). Er zuerst giebt auch den Glorien des Jenseits
einen kubisch messbaren Raum, den er mit gewaltig wogenden Ge-
stalten füllt. — Diese Beweglichkeit ist aber keine bloss äusserliche,
sondern sie durchdringt die Gestalten von innen heraus; Coreggio er-
räth, kennt und malt die feinsten Regungen des Nervenlebens.

Von grossen Linien, von strenger architektonischer Composition
ist bei ihm nicht die Rede, auch von der grossen, befreienden Schön-
heit nicht. Sinnlich Reizendes giebt er in Fülle. Hie und da ver-
räth sich auch eine tief empfindende Seele, welche vom Wirklichen
ausgehend grosse geistige Geheimnisse offenbart; es giebt Bilder des
Leidens von ihm, welche zwar nicht grossartig, aber durchaus edel,
rührend und mit unendlichem Geist durchgeführt sind. (Von seinem
aChristus am Ölberg eine gute alte Copie in den Uffizien.) Allein es
sind Ausnahmen.


1) Es ist kaum anders möglich, als dass C. das Hauptwerk seines einzigen Vor-
gängers in dieser Richtung, die Halbkuppel des Chores von SS. Apostoli zu
Rom von Melozzo da Forli gekannt habe. (Ansicht Mündlers, von Waa-
gen, Kunstblatt 1851, S. 158 gebilligt.) Sonach hätte er Rom überhaupt gekannt.
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[952/0974] Malerei des XVI. Jahrhunderts. Coreggio. zu modelliren. Bei Coreggio zuerst ist das Helldunkel wesentlich für den Mitausdruck des malerisch geschlossenen Ganzen; in diesem Strom von Lichtern und Reflexen liegt gerade der Naturmoment ausgedrückt. Abgesehen davon wusste Coreggio zuerst, dass die Oberfläche des menschlichen Körpers im Halblicht und im Reflex den reizendsten Anblick gewährt. Seine Farbe ist in der Carnation vollendet und auf eine Weise aufgetragen, die ein ganz unendliches Studium der Erscheinung in Luft und Licht voraussetzt. In der Bezeichnung anderer Stoffe raffi- nirt er nicht; die Harmonie des Ganzen, der Wohllaut der Übergänge liegt ihm mehr am Herzen. Das Hauptmerkmal seines Styles aber ist die durchgängige Be- weglichkeit seiner Gestalten, ohne welche es für ihn kein Leben und keine vollständige Räumlichkeit giebt, deren wesentlicher Mass- stab ja die bewegte und zwar mit dem vollkommenen Schein der Wirk- lichkeit bewegte, also je nach Umständen rücksichtslos verkürzte Menschengestalt ist 1). Er zuerst giebt auch den Glorien des Jenseits einen kubisch messbaren Raum, den er mit gewaltig wogenden Ge- stalten füllt. — Diese Beweglichkeit ist aber keine bloss äusserliche, sondern sie durchdringt die Gestalten von innen heraus; Coreggio er- räth, kennt und malt die feinsten Regungen des Nervenlebens. Von grossen Linien, von strenger architektonischer Composition ist bei ihm nicht die Rede, auch von der grossen, befreienden Schön- heit nicht. Sinnlich Reizendes giebt er in Fülle. Hie und da ver- räth sich auch eine tief empfindende Seele, welche vom Wirklichen ausgehend grosse geistige Geheimnisse offenbart; es giebt Bilder des Leidens von ihm, welche zwar nicht grossartig, aber durchaus edel, rührend und mit unendlichem Geist durchgeführt sind. (Von seinem Christus am Ölberg eine gute alte Copie in den Uffizien.) Allein es sind Ausnahmen. a 1) Es ist kaum anders möglich, als dass C. das Hauptwerk seines einzigen Vor- gängers in dieser Richtung, die Halbkuppel des Chores von SS. Apostoli zu Rom von Melozzo da Forli gekannt habe. (Ansicht Mündlers, von Waa- gen, Kunstblatt 1851, S. 158 gebilligt.) Sonach hätte er Rom überhaupt gekannt.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 952. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/974>, abgerufen am 05.12.2024.