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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Giorgione.
Gewänder eine vollkommene wird; anderseits aber wurde das mensch-
liche Auge genau befragt über seine Reizfähigkeit, über Alles was
ihm Wohlgefallen erregt. Das dem Laien Unbewusste wurde dem
Maler hier klarer als in andern Schulen bewusst.

Welche Gegenstände hienach für diese Meister die glücklichsten
waren, ist leicht zu errathen. Je näher sie dieser Sphäre bleiben,
desto grösser sind sie, desto zwingender die Eindrücke welche sie
erregen.


Unter den Schülern Giov. Bellini's, welche die Hauptträger der
neuen Entwicklung sind, giebt Giorgione (eigentlich Barbarelli,
1477? -- 1511) dieselbe auf eine ganz besonders eindringliche, wenn
auch einseitige Weise zu erkennen.

Die Belebung einzelner Charaktere durch hohe, bedeutende
Auffassung, durch den Reiz der vollkommensten malerischen Durch-
führung war schon in der vorigen Periode so weit gediehen, dass
eine abgesonderte Behandlung solcher Charaktere nicht länger aus-
bleiben konnte. So wie die vorige Periode ihr Bestes schon in jenen
Halbfigurenbildern der Madonna mit Heiligen zu geben im Stande ist
(S. 824, 826), so giebt nun Giorgione dergleichen Bilder profanen, bloss
poetischen Inhaltes und auch einzelne Halbfiguren, die dann schwer
von dem blossen Portrait zu trennen sind. Er ist der Urvater dieser
Gattung, welche später in der ganzen modernen Malerei eine so grosse
Rolle spielt. Allein er malt nicht desshalb costumirte Halbfiguren,
weil ihm ganze Figuren zu schwer wären, sondern weil er darin einen
abgeschlossenen poetischen Inhalt zu verewigen im Stande ist. Venedig
bot in dieser Zeit der erzählenden, dramatischen Malerei nur wenige
Beschäftigung; es fehlen die grossen Frescounternehmungen von Rom
und Florenz; der Überschuss an derartiger Begabung aber brachte es
zu Einzelfiguren wie sie keine andere Schule schafft. Soll man sie
historische oder novellistische Charaktere nennen? bald überwiegt
mehr die freie Thatfähigkeit, bald mehr das schönste Dasein.

Die erste Stelle nimmt die Lautenspielerin im Pal. Manfrina
zu Venedig ein, leicht und mit unglaublicher Meisterschaft hingemalt;
ein schönes inspirirt aufwärtsblickendes Weib, erfüllt von künftigem

B. Cicerone. 61

Giorgione.
Gewänder eine vollkommene wird; anderseits aber wurde das mensch-
liche Auge genau befragt über seine Reizfähigkeit, über Alles was
ihm Wohlgefallen erregt. Das dem Laien Unbewusste wurde dem
Maler hier klarer als in andern Schulen bewusst.

Welche Gegenstände hienach für diese Meister die glücklichsten
waren, ist leicht zu errathen. Je näher sie dieser Sphäre bleiben,
desto grösser sind sie, desto zwingender die Eindrücke welche sie
erregen.


Unter den Schülern Giov. Bellini’s, welche die Hauptträger der
neuen Entwicklung sind, giebt Giorgione (eigentlich Barbarelli,
1477? — 1511) dieselbe auf eine ganz besonders eindringliche, wenn
auch einseitige Weise zu erkennen.

Die Belebung einzelner Charaktere durch hohe, bedeutende
Auffassung, durch den Reiz der vollkommensten malerischen Durch-
führung war schon in der vorigen Periode so weit gediehen, dass
eine abgesonderte Behandlung solcher Charaktere nicht länger aus-
bleiben konnte. So wie die vorige Periode ihr Bestes schon in jenen
Halbfigurenbildern der Madonna mit Heiligen zu geben im Stande ist
(S. 824, 826), so giebt nun Giorgione dergleichen Bilder profanen, bloss
poetischen Inhaltes und auch einzelne Halbfiguren, die dann schwer
von dem blossen Portrait zu trennen sind. Er ist der Urvater dieser
Gattung, welche später in der ganzen modernen Malerei eine so grosse
Rolle spielt. Allein er malt nicht desshalb costumirte Halbfiguren,
weil ihm ganze Figuren zu schwer wären, sondern weil er darin einen
abgeschlossenen poetischen Inhalt zu verewigen im Stande ist. Venedig
bot in dieser Zeit der erzählenden, dramatischen Malerei nur wenige
Beschäftigung; es fehlen die grossen Frescounternehmungen von Rom
und Florenz; der Überschuss an derartiger Begabung aber brachte es
zu Einzelfiguren wie sie keine andere Schule schafft. Soll man sie
historische oder novellistische Charaktere nennen? bald überwiegt
mehr die freie Thatfähigkeit, bald mehr das schönste Dasein.

Die erste Stelle nimmt die Lautenspielerin im Pal. Manfrina
zu Venedig ein, leicht und mit unglaublicher Meisterschaft hingemalt;
ein schönes inspirirt aufwärtsblickendes Weib, erfüllt von künftigem

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[961/0983] Giorgione. Gewänder eine vollkommene wird; anderseits aber wurde das mensch- liche Auge genau befragt über seine Reizfähigkeit, über Alles was ihm Wohlgefallen erregt. Das dem Laien Unbewusste wurde dem Maler hier klarer als in andern Schulen bewusst. Welche Gegenstände hienach für diese Meister die glücklichsten waren, ist leicht zu errathen. Je näher sie dieser Sphäre bleiben, desto grösser sind sie, desto zwingender die Eindrücke welche sie erregen. Unter den Schülern Giov. Bellini’s, welche die Hauptträger der neuen Entwicklung sind, giebt Giorgione (eigentlich Barbarelli, 1477? — 1511) dieselbe auf eine ganz besonders eindringliche, wenn auch einseitige Weise zu erkennen. Die Belebung einzelner Charaktere durch hohe, bedeutende Auffassung, durch den Reiz der vollkommensten malerischen Durch- führung war schon in der vorigen Periode so weit gediehen, dass eine abgesonderte Behandlung solcher Charaktere nicht länger aus- bleiben konnte. So wie die vorige Periode ihr Bestes schon in jenen Halbfigurenbildern der Madonna mit Heiligen zu geben im Stande ist (S. 824, 826), so giebt nun Giorgione dergleichen Bilder profanen, bloss poetischen Inhaltes und auch einzelne Halbfiguren, die dann schwer von dem blossen Portrait zu trennen sind. Er ist der Urvater dieser Gattung, welche später in der ganzen modernen Malerei eine so grosse Rolle spielt. Allein er malt nicht desshalb costumirte Halbfiguren, weil ihm ganze Figuren zu schwer wären, sondern weil er darin einen abgeschlossenen poetischen Inhalt zu verewigen im Stande ist. Venedig bot in dieser Zeit der erzählenden, dramatischen Malerei nur wenige Beschäftigung; es fehlen die grossen Frescounternehmungen von Rom und Florenz; der Überschuss an derartiger Begabung aber brachte es zu Einzelfiguren wie sie keine andere Schule schafft. Soll man sie historische oder novellistische Charaktere nennen? bald überwiegt mehr die freie Thatfähigkeit, bald mehr das schönste Dasein. Die erste Stelle nimmt die Lautenspielerin im Pal. Manfrin zu Venedig ein, leicht und mit unglaublicher Meisterschaft hingemalt; ein schönes inspirirt aufwärtsblickendes Weib, erfüllt von künftigem a B. Cicerone. 61

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 961. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/983>, abgerufen am 05.12.2024.