In der Mitte der Schule steht die gewaltige Gestalt des Tizian (Vecellio, 1477--1576), der in seinem fast hundertjährigen Leben alles was Venedig in der Malerei vermochte, in sich aufgenommen oder selbst hervorgebracht oder vorbildlich in der jüngern Generation ge- weckt hat. Es ist kein geistiges Element in der Schule, das Er nicht irgendwo vollendet darstellt; allerdings repräsentirt er auch ihre Be- schränkung.
Der göttliche Zug in Tizian besteht darin, dass er den Dingen und Menschen diejenige Harmonie des Daseins anfühlt, welche in ihnen nach Anlage ihres Wesens sein sollte oder noch getrübt und unkennt- lich in ihnen lebt; was in der Wirklichkeit zerfallen, zerstreut, be- dingt ist, das stellt er als ganz, glückselig und frei dar. Die Kunst hat diese Aufgabe wohl durchgängig; allein Keiner löst sie mehr so ruhig, so anspruchlos, mit einem solchen Ausdruck der Nothwendig- keit. In ihm war diese Harmonie eine prästabilirte, um einen philo- sophischen Terminus in einem besondern Sinn zu brauchen. Alle äussern Kunstmittel der Schule besass er wohl in einem besonders hohen Grade, doch erreichen ihn Mehrere im einzelnen Fall. Wesent- licher ist immer seine grosse Auffassung, wie wir sie eben geschil- dert haben.
Sie ist am leichtesten zu beobachten in seinen Porträts (vgl. S. 514), in deren Gegenwart man allerdings die Frage zu vergessen pflegt: wie der Meister aus den zerstreuten und verborgenen Zügen diese grossartigen Existenzen möge ins Leben gerufen haben. Wer aber nach dieser Seite hin eindringen will, für den bedarf es keines erläuternden Wortes mehr. -- In Venedig: Galerie Manfrin: das Por-a trät des Ariost, im grauen Damastkleide; -- Caterina Cornaro. -- Academie: der Procurator Sopranzo, dat. 1514 (eher 1543). -- Inb Florenz: Pal. Pitti: der sog. Pietro Aretino, Urbild eines bestimmtenc Typus südländischer Frechheit; -- Vesalio (?); -- der greise Cornaro; -- namenloses Bild eines blonden schwarzgekleideten Mannes mit Kette; -- dann das Kniestück des Ippolito Medici im ungarischen (vielleicht vom Maler gewählten?) Kleide; -- das sehr verdorbene Carls V im Prachtkleide; -- endlich in ganzer Figur: Philipp II; -- und ein Mann in schwarzem Kleid, von gemeinen Zügen, aber offen in seiner Art und sehr distinguirt (hinten eine Architektur mit Relief am Sockel).
Rocco Marconi; Lor. Lotto. Tizian.
In der Mitte der Schule steht die gewaltige Gestalt des Tizian (Vecellio, 1477—1576), der in seinem fast hundertjährigen Leben alles was Venedig in der Malerei vermochte, in sich aufgenommen oder selbst hervorgebracht oder vorbildlich in der jüngern Generation ge- weckt hat. Es ist kein geistiges Element in der Schule, das Er nicht irgendwo vollendet darstellt; allerdings repräsentirt er auch ihre Be- schränkung.
Der göttliche Zug in Tizian besteht darin, dass er den Dingen und Menschen diejenige Harmonie des Daseins anfühlt, welche in ihnen nach Anlage ihres Wesens sein sollte oder noch getrübt und unkennt- lich in ihnen lebt; was in der Wirklichkeit zerfallen, zerstreut, be- dingt ist, das stellt er als ganz, glückselig und frei dar. Die Kunst hat diese Aufgabe wohl durchgängig; allein Keiner löst sie mehr so ruhig, so anspruchlos, mit einem solchen Ausdruck der Nothwendig- keit. In ihm war diese Harmonie eine prästabilirte, um einen philo- sophischen Terminus in einem besondern Sinn zu brauchen. Alle äussern Kunstmittel der Schule besass er wohl in einem besonders hohen Grade, doch erreichen ihn Mehrere im einzelnen Fall. Wesent- licher ist immer seine grosse Auffassung, wie wir sie eben geschil- dert haben.
Sie ist am leichtesten zu beobachten in seinen Porträts (vgl. S. 514), in deren Gegenwart man allerdings die Frage zu vergessen pflegt: wie der Meister aus den zerstreuten und verborgenen Zügen diese grossartigen Existenzen möge ins Leben gerufen haben. Wer aber nach dieser Seite hin eindringen will, für den bedarf es keines erläuternden Wortes mehr. — In Venedig: Galerie Manfrin: das Por-a trät des Ariost, im grauen Damastkleide; — Caterina Cornaro. — Academie: der Procurator Sopranzo, dat. 1514 (eher 1543). — Inb Florenz: Pal. Pitti: der sog. Pietro Aretino, Urbild eines bestimmtenc Typus südländischer Frechheit; — Vesalio (?); — der greise Cornaro; — namenloses Bild eines blonden schwarzgekleideten Mannes mit Kette; — dann das Kniestück des Ippolito Medici im ungarischen (vielleicht vom Maler gewählten?) Kleide; — das sehr verdorbene Carls V im Prachtkleide; — endlich in ganzer Figur: Philipp II; — und ein Mann in schwarzem Kleid, von gemeinen Zügen, aber offen in seiner Art und sehr distinguirt (hinten eine Architektur mit Relief am Sockel).
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Rocco Marconi; Lor. Lotto. Tizian.
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(Vecellio, 1477—1576), der in seinem fast hundertjährigen Leben alles
was Venedig in der Malerei vermochte, in sich aufgenommen oder
selbst hervorgebracht oder vorbildlich in der jüngern Generation ge-
weckt hat. Es ist kein geistiges Element in der Schule, das Er nicht
irgendwo vollendet darstellt; allerdings repräsentirt er auch ihre Be-
schränkung.
Der göttliche Zug in Tizian besteht darin, dass er den Dingen
und Menschen diejenige Harmonie des Daseins anfühlt, welche in ihnen
nach Anlage ihres Wesens sein sollte oder noch getrübt und unkennt-
lich in ihnen lebt; was in der Wirklichkeit zerfallen, zerstreut, be-
dingt ist, das stellt er als ganz, glückselig und frei dar. Die Kunst
hat diese Aufgabe wohl durchgängig; allein Keiner löst sie mehr so
ruhig, so anspruchlos, mit einem solchen Ausdruck der Nothwendig-
keit. In ihm war diese Harmonie eine prästabilirte, um einen philo-
sophischen Terminus in einem besondern Sinn zu brauchen. Alle
äussern Kunstmittel der Schule besass er wohl in einem besonders
hohen Grade, doch erreichen ihn Mehrere im einzelnen Fall. Wesent-
licher ist immer seine grosse Auffassung, wie wir sie eben geschil-
dert haben.
Sie ist am leichtesten zu beobachten in seinen Porträts (vgl.
S. 514), in deren Gegenwart man allerdings die Frage zu vergessen
pflegt: wie der Meister aus den zerstreuten und verborgenen Zügen
diese grossartigen Existenzen möge ins Leben gerufen haben. Wer
aber nach dieser Seite hin eindringen will, für den bedarf es keines
erläuternden Wortes mehr. — In Venedig: Galerie Manfrin: das Por-
trät des Ariost, im grauen Damastkleide; — Caterina Cornaro. —
Academie: der Procurator Sopranzo, dat. 1514 (eher 1543). — In
Florenz: Pal. Pitti: der sog. Pietro Aretino, Urbild eines bestimmten
Typus südländischer Frechheit; — Vesalio (?); — der greise Cornaro;
— namenloses Bild eines blonden schwarzgekleideten Mannes mit Kette;
— dann das Kniestück des Ippolito Medici im ungarischen (vielleicht
vom Maler gewählten?) Kleide; — das sehr verdorbene Carls V im
Prachtkleide; — endlich in ganzer Figur: Philipp II; — und ein Mann
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 967. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/989>, abgerufen am 05.12.2024.
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