Tizian: ein junger Nobile, der sich zu einer Dame umwendet, deren Züge an die Flora erinnern, auf der andern Seite ein Knabe mit Fe- derbarett. Die Trachten sind wohl erst diejenigen um 1520.
Sodann hat Tizian in einzelnen nackten Gestalten wiederum andere Probleme eines hohen Daseins gelöst, wobei zugleich die male- rische Darstellung einen vielleicht nie mehr erreichbaren Triumph feiert. In der Tribuna der Uffizien die beiden berühmten Bilder, das einea als Venus bezeichnet durch Anwesenheit des Amor, das andere ohne irgend eine mytholog. Andeutung, doch ebenfalls Venus genannt. Die- ses letztere ist wohl das frühere; der Kopf trägt die Züge der Bella im Pal. Pitti 1). Gestalten dieser Art sind es, welche so oft unserer jetzigen (zumal französischen) Malerei das Concept verrücken. Warum sind dieses ewige Formen, während die Neuern es so selten über schöne Modellakte hinaus bringen? Weil Motiv und Moment und Licht und Farbe und Bildung mit einander im Geiste Tizians ent- standen und wuchsen. Was auf diese Weise geschaffen ist, das ist ewig. Die wonnig leichte Lage, die Stimmung der Carnation zu dem goldenen Haar und zu dem weissen Linnen und so viel andere Ein- zelschönheiten gehen hier durchaus in der Harmonie des Ganzen auf, nichts präsentirt sich abgesondert. Das andere Bild, in den Linien der Hauptgestalt ähnlich, schildert doch einen andern Typus und er- hält durch den rothen Sammtteppich statt des Linnen, sowie durch den landschaftlichen Hintergrund einen wesentlich neuen Sinn. -- Eine dritte liegende Figur, auf einem Lager mit rothem Baldachin, in derb Academia di S. Luca zu Rom, ist durch eine Schrifttafel als Vanitas bezeichnet; ein sehr schönes Werk, dessen nähere Untersuchung der Verf. jedoch versäumt hat.
In den einzelnen Gestalten heiligen Inhaltes wird man bei Tizian fast niemals die möglichst würdige und angemessene Darstel- lung des Gegenstandes suchen dürfen, von welchem sie den Namen tragen. Überhaupt gehen tizianische Charaktere, so gross und in ge- wissem Sinn historisch sie an sich sind, doch nicht leicht in irgend eine geschichtliche Bedeutung auf; ihr besonderes Leben überwiegt.
1) Auch jene Herzogin von Urbino (S. 968, a) trägt denselben Typus.
Tizian. Porträts. Nackte Gestalten.
Tizian: ein junger Nobile, der sich zu einer Dame umwendet, deren Züge an die Flora erinnern, auf der andern Seite ein Knabe mit Fe- derbarett. Die Trachten sind wohl erst diejenigen um 1520.
Sodann hat Tizian in einzelnen nackten Gestalten wiederum andere Probleme eines hohen Daseins gelöst, wobei zugleich die male- rische Darstellung einen vielleicht nie mehr erreichbaren Triumph feiert. In der Tribuna der Uffizien die beiden berühmten Bilder, das einea als Venus bezeichnet durch Anwesenheit des Amor, das andere ohne irgend eine mytholog. Andeutung, doch ebenfalls Venus genannt. Die- ses letztere ist wohl das frühere; der Kopf trägt die Züge der Bella im Pal. Pitti 1). Gestalten dieser Art sind es, welche so oft unserer jetzigen (zumal französischen) Malerei das Concept verrücken. Warum sind dieses ewige Formen, während die Neuern es so selten über schöne Modellakte hinaus bringen? Weil Motiv und Moment und Licht und Farbe und Bildung mit einander im Geiste Tizians ent- standen und wuchsen. Was auf diese Weise geschaffen ist, das ist ewig. Die wonnig leichte Lage, die Stimmung der Carnation zu dem goldenen Haar und zu dem weissen Linnen und so viel andere Ein- zelschönheiten gehen hier durchaus in der Harmonie des Ganzen auf, nichts präsentirt sich abgesondert. Das andere Bild, in den Linien der Hauptgestalt ähnlich, schildert doch einen andern Typus und er- hält durch den rothen Sammtteppich statt des Linnen, sowie durch den landschaftlichen Hintergrund einen wesentlich neuen Sinn. — Eine dritte liegende Figur, auf einem Lager mit rothem Baldachin, in derb Academia di S. Luca zu Rom, ist durch eine Schrifttafel als Vanitas bezeichnet; ein sehr schönes Werk, dessen nähere Untersuchung der Verf. jedoch versäumt hat.
In den einzelnen Gestalten heiligen Inhaltes wird man bei Tizian fast niemals die möglichst würdige und angemessene Darstel- lung des Gegenstandes suchen dürfen, von welchem sie den Namen tragen. Überhaupt gehen tizianische Charaktere, so gross und in ge- wissem Sinn historisch sie an sich sind, doch nicht leicht in irgend eine geschichtliche Bedeutung auf; ihr besonderes Leben überwiegt.
1) Auch jene Herzogin von Urbino (S. 968, a) trägt denselben Typus.
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Tizian. Porträts. Nackte Gestalten.
Tizian: ein junger Nobile, der sich zu einer Dame umwendet, deren
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derbarett. Die Trachten sind wohl erst diejenigen um 1520.
Sodann hat Tizian in einzelnen nackten Gestalten wiederum
andere Probleme eines hohen Daseins gelöst, wobei zugleich die male-
rische Darstellung einen vielleicht nie mehr erreichbaren Triumph feiert.
In der Tribuna der Uffizien die beiden berühmten Bilder, das eine
als Venus bezeichnet durch Anwesenheit des Amor, das andere ohne
irgend eine mytholog. Andeutung, doch ebenfalls Venus genannt. Die-
ses letztere ist wohl das frühere; der Kopf trägt die Züge der Bella
im Pal. Pitti 1). Gestalten dieser Art sind es, welche so oft unserer
jetzigen (zumal französischen) Malerei das Concept verrücken. Warum
sind dieses ewige Formen, während die Neuern es so selten über
schöne Modellakte hinaus bringen? Weil Motiv und Moment und
Licht und Farbe und Bildung mit einander im Geiste Tizians ent-
standen und wuchsen. Was auf diese Weise geschaffen ist, das ist
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goldenen Haar und zu dem weissen Linnen und so viel andere Ein-
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der Hauptgestalt ähnlich, schildert doch einen andern Typus und er-
hält durch den rothen Sammtteppich statt des Linnen, sowie durch
den landschaftlichen Hintergrund einen wesentlich neuen Sinn. — Eine
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Academia di S. Luca zu Rom, ist durch eine Schrifttafel als Vanitas
bezeichnet; ein sehr schönes Werk, dessen nähere Untersuchung der
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Tizian fast niemals die möglichst würdige und angemessene Darstel-
lung des Gegenstandes suchen dürfen, von welchem sie den Namen
tragen. Überhaupt gehen tizianische Charaktere, so gross und in ge-
wissem Sinn historisch sie an sich sind, doch nicht leicht in irgend
eine geschichtliche Bedeutung auf; ihr besonderes Leben überwiegt.
1) Auch jene Herzogin von Urbino (S. 968, a) trägt denselben Typus.
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 969. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/991>, abgerufen am 05.12.2024.
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