Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite
Malerei des XVI. Jahrhunderts. Venedig.

In der bekannten Magdalena z. B. sollte wohl die bussfertige
Sünderin dargestellt werden, allein in dem wundervollen Weib, deren
Haare wie goldene Wellen den schönen Leib umströmen, ist diess
aoffenbar nur Nebensache. (Hauptexemplar: Pal. Pitti; -- mit ge-
bstreiftem Überwurf bekleidet, übrigens noch von T. selbst, im Museum
cvon Neapel; -- geringere Exemplare und Copien: Pal. Doria in Rom,
u. a. a. O.) -- Schon eher ist in dem einsamen Bussprediger Johan-
dnes (Acad. v. Venedig) eine strenge Gegenstandswahrheit beobachtet;
ein edler Kopf, vielleicht etwas nervös leidend, mit dem Ausdruck
des Kummers; er winkt mit der Rechten die Leute herbei. (Rafaels
Johannes S. 903.) -- Der S. Hieronymus, von welchem Italien we-
enigstens ein gutes Exempalar (Brera zu Mailand) besitzt, ist malerisch
genommen ein hochpoetisches Werk, energische Bildung, schöne Li-
nien, ein prächtiges Ensemble des Nackten, des rothen Gewandes,
des Löwen, mit jenem steilen waldigen Hohlweg als Hintergrund;
allein der Ausdruck der begeisterten Ascese ist nicht innerlich ge-
nug. -- In einzelnen Christusköpfen dagegen hat Tizian das Ideal
Bellini's auf tiefsinnige, überaus geistreiche Weise neu gebildet. Der
schönste findet sich in Dresden (Cristo della moneta); derjenige im
fPal. Pitti ist ebenfalls noch ein edles Specimen. -- Die grosse Fresco-
gfigur des S. Christoph im Dogenpalast (unten an der Treppe neben
der Capella) ist wohl eines derjenigen Werke T.'s, aus welchen ein
frischer, von Coreggio empfangener Eindruck hervorzuleuchten scheint.


Nach dem Gesagten kann es nicht mehr zweifelhaft sein, welche
unter den grössern Kirchenbildern den reinsten und vollkommen-
sten Eindruck hervorbringen müssen; es sind die ruhigen Existenz-
bilder, meist Madonnen mit Heiligen und Donatoren. Hier wo Ein
Klang, Eine Stimmung das Ganze erfüllen darf, wo die besondere
historische Intention zurücktritt, ist Tizian ganz unvergleichlich gross.
hDas frühste dieser Bilder, S. Marcus zwischen 4 Heiligen thronend,
im Vorraum der Sacristei der Salute, ist ein Wunderwerk an Reife
und Adel der Charaktere, in gewaltig leuchtendem Goldton. -- Eine
ieigentliche Santa conversazione ist dann das grossartige späte Bild
der vatican. Galerie; sechs Heilige, zum Theil von gemässigtem

Malerei des XVI. Jahrhunderts. Venedig.

In der bekannten Magdalena z. B. sollte wohl die bussfertige
Sünderin dargestellt werden, allein in dem wundervollen Weib, deren
Haare wie goldene Wellen den schönen Leib umströmen, ist diess
aoffenbar nur Nebensache. (Hauptexemplar: Pal. Pitti; — mit ge-
bstreiftem Überwurf bekleidet, übrigens noch von T. selbst, im Museum
cvon Neapel; — geringere Exemplare und Copien: Pal. Doria in Rom,
u. a. a. O.) — Schon eher ist in dem einsamen Bussprediger Johan-
dnes (Acad. v. Venedig) eine strenge Gegenstandswahrheit beobachtet;
ein edler Kopf, vielleicht etwas nervös leidend, mit dem Ausdruck
des Kummers; er winkt mit der Rechten die Leute herbei. (Rafaels
Johannes S. 903.) — Der S. Hieronymus, von welchem Italien we-
enigstens ein gutes Exempalar (Brera zu Mailand) besitzt, ist malerisch
genommen ein hochpoetisches Werk, energische Bildung, schöne Li-
nien, ein prächtiges Ensemble des Nackten, des rothen Gewandes,
des Löwen, mit jenem steilen waldigen Hohlweg als Hintergrund;
allein der Ausdruck der begeisterten Ascese ist nicht innerlich ge-
nug. — In einzelnen Christusköpfen dagegen hat Tizian das Ideal
Bellini’s auf tiefsinnige, überaus geistreiche Weise neu gebildet. Der
schönste findet sich in Dresden (Cristo della moneta); derjenige im
fPal. Pitti ist ebenfalls noch ein edles Specimen. — Die grosse Fresco-
gfigur des S. Christoph im Dogenpalast (unten an der Treppe neben
der Capella) ist wohl eines derjenigen Werke T.’s, aus welchen ein
frischer, von Coreggio empfangener Eindruck hervorzuleuchten scheint.


Nach dem Gesagten kann es nicht mehr zweifelhaft sein, welche
unter den grössern Kirchenbildern den reinsten und vollkommen-
sten Eindruck hervorbringen müssen; es sind die ruhigen Existenz-
bilder, meist Madonnen mit Heiligen und Donatoren. Hier wo Ein
Klang, Eine Stimmung das Ganze erfüllen darf, wo die besondere
historische Intention zurücktritt, ist Tizian ganz unvergleichlich gross.
hDas frühste dieser Bilder, S. Marcus zwischen 4 Heiligen thronend,
im Vorraum der Sacristei der Salute, ist ein Wunderwerk an Reife
und Adel der Charaktere, in gewaltig leuchtendem Goldton. — Eine
ieigentliche Santa conversazione ist dann das grossartige späte Bild
der vatican. Galerie; sechs Heilige, zum Theil von gemässigtem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0992" n="970"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Malerei des XVI. Jahrhunderts. Venedig.</hi> </fw><lb/>
        <p>In der bekannten <hi rendition="#g">Magdalena</hi> z. B. sollte wohl die bussfertige<lb/>
Sünderin dargestellt werden, allein in dem wundervollen Weib, deren<lb/>
Haare wie goldene Wellen den schönen Leib umströmen, ist diess<lb/><note place="left">a</note>offenbar nur Nebensache. (Hauptexemplar: Pal. Pitti; &#x2014; mit ge-<lb/><note place="left">b</note>streiftem Überwurf bekleidet, übrigens noch von T. selbst, im Museum<lb/><note place="left">c</note>von Neapel; &#x2014; geringere Exemplare und Copien: Pal. Doria in Rom,<lb/>
u. a. a. O.) &#x2014; Schon eher ist in dem einsamen Bussprediger <hi rendition="#g">Johan-</hi><lb/><note place="left">d</note><hi rendition="#g">nes</hi> (Acad. v. Venedig) eine strenge Gegenstandswahrheit beobachtet;<lb/>
ein edler Kopf, vielleicht etwas nervös leidend, mit dem Ausdruck<lb/>
des Kummers; er winkt mit der Rechten die Leute herbei. (Rafaels<lb/>
Johannes S. 903.) &#x2014; Der S. Hieronymus, von welchem Italien we-<lb/><note place="left">e</note>nigstens ein gutes Exempalar (Brera zu Mailand) besitzt, ist malerisch<lb/>
genommen ein hochpoetisches Werk, energische Bildung, schöne Li-<lb/>
nien, ein prächtiges Ensemble des Nackten, des rothen Gewandes,<lb/>
des Löwen, mit jenem steilen waldigen Hohlweg als Hintergrund;<lb/>
allein der Ausdruck der begeisterten Ascese ist nicht innerlich ge-<lb/>
nug. &#x2014; In einzelnen <hi rendition="#g">Christusköpfen</hi> dagegen hat Tizian das Ideal<lb/>
Bellini&#x2019;s auf tiefsinnige, überaus geistreiche Weise neu gebildet. Der<lb/>
schönste findet sich in Dresden (Cristo della moneta); derjenige im<lb/><note place="left">f</note>Pal. Pitti ist ebenfalls noch ein edles Specimen. &#x2014; Die grosse Fresco-<lb/><note place="left">g</note>figur des S. <hi rendition="#g">Christoph</hi> im Dogenpalast (unten an der Treppe neben<lb/>
der Capella) ist wohl eines derjenigen Werke T.&#x2019;s, aus welchen ein<lb/>
frischer, von Coreggio empfangener Eindruck hervorzuleuchten scheint.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Nach dem Gesagten kann es nicht mehr zweifelhaft sein, welche<lb/>
unter den grössern <hi rendition="#g">Kirchenbildern</hi> den reinsten und vollkommen-<lb/>
sten Eindruck hervorbringen müssen; es sind die ruhigen Existenz-<lb/>
bilder, meist Madonnen mit Heiligen und Donatoren. Hier wo Ein<lb/>
Klang, Eine Stimmung das Ganze erfüllen darf, wo die besondere<lb/>
historische Intention zurücktritt, ist Tizian ganz unvergleichlich gross.<lb/><note place="left">h</note>Das frühste dieser Bilder, S. <hi rendition="#g">Marcus</hi> zwischen 4 Heiligen thronend,<lb/>
im Vorraum der Sacristei der <hi rendition="#g">Salute</hi>, ist ein Wunderwerk an Reife<lb/>
und Adel der Charaktere, in gewaltig leuchtendem Goldton. &#x2014; Eine<lb/><note place="left">i</note>eigentliche Santa conversazione ist dann das grossartige späte Bild<lb/>
der <hi rendition="#g">vatican. Galerie</hi>; sechs Heilige, zum Theil von gemässigtem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[970/0992] Malerei des XVI. Jahrhunderts. Venedig. In der bekannten Magdalena z. B. sollte wohl die bussfertige Sünderin dargestellt werden, allein in dem wundervollen Weib, deren Haare wie goldene Wellen den schönen Leib umströmen, ist diess offenbar nur Nebensache. (Hauptexemplar: Pal. Pitti; — mit ge- streiftem Überwurf bekleidet, übrigens noch von T. selbst, im Museum von Neapel; — geringere Exemplare und Copien: Pal. Doria in Rom, u. a. a. O.) — Schon eher ist in dem einsamen Bussprediger Johan- nes (Acad. v. Venedig) eine strenge Gegenstandswahrheit beobachtet; ein edler Kopf, vielleicht etwas nervös leidend, mit dem Ausdruck des Kummers; er winkt mit der Rechten die Leute herbei. (Rafaels Johannes S. 903.) — Der S. Hieronymus, von welchem Italien we- nigstens ein gutes Exempalar (Brera zu Mailand) besitzt, ist malerisch genommen ein hochpoetisches Werk, energische Bildung, schöne Li- nien, ein prächtiges Ensemble des Nackten, des rothen Gewandes, des Löwen, mit jenem steilen waldigen Hohlweg als Hintergrund; allein der Ausdruck der begeisterten Ascese ist nicht innerlich ge- nug. — In einzelnen Christusköpfen dagegen hat Tizian das Ideal Bellini’s auf tiefsinnige, überaus geistreiche Weise neu gebildet. Der schönste findet sich in Dresden (Cristo della moneta); derjenige im Pal. Pitti ist ebenfalls noch ein edles Specimen. — Die grosse Fresco- figur des S. Christoph im Dogenpalast (unten an der Treppe neben der Capella) ist wohl eines derjenigen Werke T.’s, aus welchen ein frischer, von Coreggio empfangener Eindruck hervorzuleuchten scheint. a b c d e f g Nach dem Gesagten kann es nicht mehr zweifelhaft sein, welche unter den grössern Kirchenbildern den reinsten und vollkommen- sten Eindruck hervorbringen müssen; es sind die ruhigen Existenz- bilder, meist Madonnen mit Heiligen und Donatoren. Hier wo Ein Klang, Eine Stimmung das Ganze erfüllen darf, wo die besondere historische Intention zurücktritt, ist Tizian ganz unvergleichlich gross. Das frühste dieser Bilder, S. Marcus zwischen 4 Heiligen thronend, im Vorraum der Sacristei der Salute, ist ein Wunderwerk an Reife und Adel der Charaktere, in gewaltig leuchtendem Goldton. — Eine eigentliche Santa conversazione ist dann das grossartige späte Bild der vatican. Galerie; sechs Heilige, zum Theil von gemässigtem h i

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/992
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 970. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/992>, abgerufen am 05.12.2024.