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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Tizian. Einzelcharaktere. Kirchenbilder.
ekstatischem Ausdruck, bewegen sich frei vor einer Trümmernische,
über welcher auf Wolken die Madonna erscheint; zwei Engel eilen
dem Kind Kränze zu bringen, welche es in seligem Muthwillen her-
unterwirft; weiter oben sieht man noch den Anfang einer Strahlen-
glorie (deren halbrunder Abschluss, mit der Taube des heil. Geistes,
noch vorhanden, aber auf die Rückseite umgebogen sein soll). --
Endlich das wichtigste und schönste aller Präsentationsbilder, durch
welches T. die Auffassung solcher Gegenstände für die ganze Folge-
zeit neu feststellte, nach malerischen Gesetzen der Gruppen- und
Farbenfolge, in freier, luftiger Räumlichkeit. Es ist das Gemälde in
den Frari, auf einem der ersten Altäre links: mehrere Heiligea
empfehlen der auf einem Altar thronenden Madonna die unten knieen-
den Mitglieder der Familie Pesaro. Ein Werk von ganz unergründ-
licher Schönheit, das der Beschauer vielleicht mit mir unter allen
Gemälden T.'s am meisten persönlich lieb gewinnen wird.

Einzelne Madonnen mit dem Kinde, im Freien oder vor einem
grünen Vorhang u. dgl., kommen hin und wieder vor. Eine kleine,
frühe und sehr schöne im Pal. Sciarra zu Rom. Über eine reife Müt-b
terlichkeit, allerdings der liebenswürdigsten Art, geht ihr Ausdruck
nicht hinaus.

Biblische u. a. heilige Scenen sind um so viel harmoni-
scher, je einfacher die dargestellten Beziehungen sind. In der Aca-c
demie: die Heimsuchung, das frühste bekannte Gemälde des Meisters.
-- In S. Marcilian, 1. Alt. l., der junge Tobias mit dem Engel, eind
ganz naives Bild kindlicher Beschränktheit unter himmlischem Schutze.
-- In S. Salvatore, letzter Alt. d. r. Seitenschiffes: eine ganz spätee
Verkündigung. -- Von den reichern Compositionen nimmt die be-
rühmte Grablegung (im Pal. Manfrin) wohl die erste Stelle ein.f
Man soll nicht mit dem Vergleichen anfangen; allein hier drängt sich
die Parallele mit der borghesischen Grablegung Rafaels unabweislich
auf. An dramatischem Reichthum, an Majestät der Linien kann sich
das Werk Tizians mit jenem nicht messen; die Stellungen der we-
nigsten Figuren werden auch nur genügend erklärt. Aber die Gruppe
ist nicht nur nach Farben unendlich schön gebaut, sondern auch in
dem Ausdruck des geistigen Schmerzes allem Höchsten gleichzustellen.
Kein Zug des Pathos liegt ausserhalb des Ereignisses, keiner über-

Tizian. Einzelcharaktere. Kirchenbilder.
ekstatischem Ausdruck, bewegen sich frei vor einer Trümmernische,
über welcher auf Wolken die Madonna erscheint; zwei Engel eilen
dem Kind Kränze zu bringen, welche es in seligem Muthwillen her-
unterwirft; weiter oben sieht man noch den Anfang einer Strahlen-
glorie (deren halbrunder Abschluss, mit der Taube des heil. Geistes,
noch vorhanden, aber auf die Rückseite umgebogen sein soll). —
Endlich das wichtigste und schönste aller Präsentationsbilder, durch
welches T. die Auffassung solcher Gegenstände für die ganze Folge-
zeit neu feststellte, nach malerischen Gesetzen der Gruppen- und
Farbenfolge, in freier, luftiger Räumlichkeit. Es ist das Gemälde in
den Frari, auf einem der ersten Altäre links: mehrere Heiligea
empfehlen der auf einem Altar thronenden Madonna die unten knieen-
den Mitglieder der Familie Pesaro. Ein Werk von ganz unergründ-
licher Schönheit, das der Beschauer vielleicht mit mir unter allen
Gemälden T.’s am meisten persönlich lieb gewinnen wird.

Einzelne Madonnen mit dem Kinde, im Freien oder vor einem
grünen Vorhang u. dgl., kommen hin und wieder vor. Eine kleine,
frühe und sehr schöne im Pal. Sciarra zu Rom. Über eine reife Müt-b
terlichkeit, allerdings der liebenswürdigsten Art, geht ihr Ausdruck
nicht hinaus.

Biblische u. a. heilige Scenen sind um so viel harmoni-
scher, je einfacher die dargestellten Beziehungen sind. In der Aca-c
demie: die Heimsuchung, das frühste bekannte Gemälde des Meisters.
— In S. Marcilian, 1. Alt. l., der junge Tobias mit dem Engel, eind
ganz naives Bild kindlicher Beschränktheit unter himmlischem Schutze.
— In S. Salvatore, letzter Alt. d. r. Seitenschiffes: eine ganz spätee
Verkündigung. — Von den reichern Compositionen nimmt die be-
rühmte Grablegung (im Pal. Manfrin) wohl die erste Stelle ein.f
Man soll nicht mit dem Vergleichen anfangen; allein hier drängt sich
die Parallele mit der borghesischen Grablegung Rafaels unabweislich
auf. An dramatischem Reichthum, an Majestät der Linien kann sich
das Werk Tizians mit jenem nicht messen; die Stellungen der we-
nigsten Figuren werden auch nur genügend erklärt. Aber die Gruppe
ist nicht nur nach Farben unendlich schön gebaut, sondern auch in
dem Ausdruck des geistigen Schmerzes allem Höchsten gleichzustellen.
Kein Zug des Pathos liegt ausserhalb des Ereignisses, keiner über-

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[971/0993] Tizian. Einzelcharaktere. Kirchenbilder. ekstatischem Ausdruck, bewegen sich frei vor einer Trümmernische, über welcher auf Wolken die Madonna erscheint; zwei Engel eilen dem Kind Kränze zu bringen, welche es in seligem Muthwillen her- unterwirft; weiter oben sieht man noch den Anfang einer Strahlen- glorie (deren halbrunder Abschluss, mit der Taube des heil. Geistes, noch vorhanden, aber auf die Rückseite umgebogen sein soll). — Endlich das wichtigste und schönste aller Präsentationsbilder, durch welches T. die Auffassung solcher Gegenstände für die ganze Folge- zeit neu feststellte, nach malerischen Gesetzen der Gruppen- und Farbenfolge, in freier, luftiger Räumlichkeit. Es ist das Gemälde in den Frari, auf einem der ersten Altäre links: mehrere Heilige empfehlen der auf einem Altar thronenden Madonna die unten knieen- den Mitglieder der Familie Pesaro. Ein Werk von ganz unergründ- licher Schönheit, das der Beschauer vielleicht mit mir unter allen Gemälden T.’s am meisten persönlich lieb gewinnen wird. a Einzelne Madonnen mit dem Kinde, im Freien oder vor einem grünen Vorhang u. dgl., kommen hin und wieder vor. Eine kleine, frühe und sehr schöne im Pal. Sciarra zu Rom. Über eine reife Müt- terlichkeit, allerdings der liebenswürdigsten Art, geht ihr Ausdruck nicht hinaus. b Biblische u. a. heilige Scenen sind um so viel harmoni- scher, je einfacher die dargestellten Beziehungen sind. In der Aca- demie: die Heimsuchung, das frühste bekannte Gemälde des Meisters. — In S. Marcilian, 1. Alt. l., der junge Tobias mit dem Engel, ein ganz naives Bild kindlicher Beschränktheit unter himmlischem Schutze. — In S. Salvatore, letzter Alt. d. r. Seitenschiffes: eine ganz späte Verkündigung. — Von den reichern Compositionen nimmt die be- rühmte Grablegung (im Pal. Manfrin) wohl die erste Stelle ein. Man soll nicht mit dem Vergleichen anfangen; allein hier drängt sich die Parallele mit der borghesischen Grablegung Rafaels unabweislich auf. An dramatischem Reichthum, an Majestät der Linien kann sich das Werk Tizians mit jenem nicht messen; die Stellungen der we- nigsten Figuren werden auch nur genügend erklärt. Aber die Gruppe ist nicht nur nach Farben unendlich schön gebaut, sondern auch in dem Ausdruck des geistigen Schmerzes allem Höchsten gleichzustellen. Kein Zug des Pathos liegt ausserhalb des Ereignisses, keiner über- c d e f

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 971. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/993>, abgerufen am 17.07.2024.