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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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Die Lücken des Gesetzes.
es den Grundsatz, der anzuwenden wäre, nicht angibt. Gewiß
wird der Richter bei diesem negativen Ergebnis nicht stehen
bleiben; er muß entscheiden, ob der Vorvertrag gültig ist oder
nicht und ob die Aktie vom Eigentümer oder vom Nutznießer zu
vertreten sei. Der bekannte Art. 4 des französischen c. c.1 prägt
es ihm ein. Man sagt deshalb etwa: das Gesetz möge Lücken
haben, aber die Rechtsordnung könne nicht lückenhaft sein. Das
ist nicht unrichtig; aber man drückt damit nur in anderen Worten
das Postulat aus, daß der Richter sich auf die Lückenhaftigkeit
des geschriebenen Rechts nicht berufen dürfe, sondern so ent-
scheiden müsse, wie wenn das Recht lückenlos wäre. Man gibt
aber damit zu, daß das Gesetz lückenhaft sein kann und man
beantwortet noch nicht die Frage, wie ein Grundsatz verbindlich
sein kann, der nicht im Gesetze steht, und wie in unserem Rechts-
system eine Norm außer dem Gesetz Geltung erlangen kann.
Wie kann der Richter, der das Gesetz anwenden soll, es er-
gänzen?

Die Frage wird leichter verständlich sein, wenn wir uns ver-
gegenwärtigen, welcher Art die echten Gesetzeslücken sind und
wo sie sich finden; es wird sich dann auch zeigen, weshalb sie nicht
unausgefüllt bleiben können.

1. Die echte Lücke, sagten wir, besteht in einem logischen
Mangel: darin, daß das Gesetz auf eine Frage, die nach seinen
Prämissen notwendig gestellt werden muß, keine Antwort erteilt.
Ein solcher Fall liegt vor, wenn das geltende Privatrecht nicht
alle Fragen beantwortet, die zur Ordnung des Verhaltens der
Privatpersonen untereinander beantwortet werden müssen. Wir
haben vorhin zwei Beispiele erwähnt. Die bürgerlichen Gesetz-
bücher sind es ja gewesen, die dem Richter eingeschärft haben,
sich nicht durch die Lücken des Gesetzes aufhalten zu lassen.
Und das ist nicht zufällig: der Behörde, die Privatrecht anzuwenden
hat, kann dies ohne Bedenken anbefohlen werden, nicht aber
derjenigen, die öffentliches Recht anwendet.

Ein Beispiel wird das fühlbar machen: Wenn es zwischen

1 Das österreichische ABG, Art. 7, und der italienische c. c. disp.
gener., art. 3, Abs. 2, verweisen den Richter auf die " natürlichen" bzw.
"allgemeinen" Grundsätze; das Schweizer. ZGB, Art. 1, auf die "Regel,
die er als Gesetzgeber aufstellen würde".

Die Lücken des Gesetzes.
es den Grundsatz, der anzuwenden wäre, nicht angibt. Gewiß
wird der Richter bei diesem negativen Ergebnis nicht stehen
bleiben; er muß entscheiden, ob der Vorvertrag gültig ist oder
nicht und ob die Aktie vom Eigentümer oder vom Nutznießer zu
vertreten sei. Der bekannte Art. 4 des französischen c. c.1 prägt
es ihm ein. Man sagt deshalb etwa: das Gesetz möge Lücken
haben, aber die Rechtsordnung könne nicht lückenhaft sein. Das
ist nicht unrichtig; aber man drückt damit nur in anderen Worten
das Postulat aus, daß der Richter sich auf die Lückenhaftigkeit
des geschriebenen Rechts nicht berufen dürfe, sondern so ent-
scheiden müsse, wie wenn das Recht lückenlos wäre. Man gibt
aber damit zu, daß das Gesetz lückenhaft sein kann und man
beantwortet noch nicht die Frage, wie ein Grundsatz verbindlich
sein kann, der nicht im Gesetze steht, und wie in unserem Rechts-
system eine Norm außer dem Gesetz Geltung erlangen kann.
Wie kann der Richter, der das Gesetz anwenden soll, es er-
gänzen?

Die Frage wird leichter verständlich sein, wenn wir uns ver-
gegenwärtigen, welcher Art die echten Gesetzeslücken sind und
wo sie sich finden; es wird sich dann auch zeigen, weshalb sie nicht
unausgefüllt bleiben können.

1. Die echte Lücke, sagten wir, besteht in einem logischen
Mangel: darin, daß das Gesetz auf eine Frage, die nach seinen
Prämissen notwendig gestellt werden muß, keine Antwort erteilt.
Ein solcher Fall liegt vor, wenn das geltende Privatrecht nicht
alle Fragen beantwortet, die zur Ordnung des Verhaltens der
Privatpersonen untereinander beantwortet werden müssen. Wir
haben vorhin zwei Beispiele erwähnt. Die bürgerlichen Gesetz-
bücher sind es ja gewesen, die dem Richter eingeschärft haben,
sich nicht durch die Lücken des Gesetzes aufhalten zu lassen.
Und das ist nicht zufällig: der Behörde, die Privatrecht anzuwenden
hat, kann dies ohne Bedenken anbefohlen werden, nicht aber
derjenigen, die öffentliches Recht anwendet.

Ein Beispiel wird das fühlbar machen: Wenn es zwischen

1 Das österreichische ABG, Art. 7, und der italienische c. c. disp.
gener., art. 3, Abs. 2, verweisen den Richter auf die „ natürlichen“ bzw.
„allgemeinen“ Grundsätze; das Schweizer. ZGB, Art. 1, auf die „Regel,
die er als Gesetzgeber aufstellen würde“.
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[107/0122] Die Lücken des Gesetzes. es den Grundsatz, der anzuwenden wäre, nicht angibt. Gewiß wird der Richter bei diesem negativen Ergebnis nicht stehen bleiben; er muß entscheiden, ob der Vorvertrag gültig ist oder nicht und ob die Aktie vom Eigentümer oder vom Nutznießer zu vertreten sei. Der bekannte Art. 4 des französischen c. c. 1 prägt es ihm ein. Man sagt deshalb etwa: das Gesetz möge Lücken haben, aber die Rechtsordnung könne nicht lückenhaft sein. Das ist nicht unrichtig; aber man drückt damit nur in anderen Worten das Postulat aus, daß der Richter sich auf die Lückenhaftigkeit des geschriebenen Rechts nicht berufen dürfe, sondern so ent- scheiden müsse, wie wenn das Recht lückenlos wäre. Man gibt aber damit zu, daß das Gesetz lückenhaft sein kann und man beantwortet noch nicht die Frage, wie ein Grundsatz verbindlich sein kann, der nicht im Gesetze steht, und wie in unserem Rechts- system eine Norm außer dem Gesetz Geltung erlangen kann. Wie kann der Richter, der das Gesetz anwenden soll, es er- gänzen? Die Frage wird leichter verständlich sein, wenn wir uns ver- gegenwärtigen, welcher Art die echten Gesetzeslücken sind und wo sie sich finden; es wird sich dann auch zeigen, weshalb sie nicht unausgefüllt bleiben können. 1. Die echte Lücke, sagten wir, besteht in einem logischen Mangel: darin, daß das Gesetz auf eine Frage, die nach seinen Prämissen notwendig gestellt werden muß, keine Antwort erteilt. Ein solcher Fall liegt vor, wenn das geltende Privatrecht nicht alle Fragen beantwortet, die zur Ordnung des Verhaltens der Privatpersonen untereinander beantwortet werden müssen. Wir haben vorhin zwei Beispiele erwähnt. Die bürgerlichen Gesetz- bücher sind es ja gewesen, die dem Richter eingeschärft haben, sich nicht durch die Lücken des Gesetzes aufhalten zu lassen. Und das ist nicht zufällig: der Behörde, die Privatrecht anzuwenden hat, kann dies ohne Bedenken anbefohlen werden, nicht aber derjenigen, die öffentliches Recht anwendet. Ein Beispiel wird das fühlbar machen: Wenn es zwischen 1 Das österreichische ABG, Art. 7, und der italienische c. c. disp. gener., art. 3, Abs. 2, verweisen den Richter auf die „ natürlichen“ bzw. „allgemeinen“ Grundsätze; das Schweizer. ZGB, Art. 1, auf die „Regel, die er als Gesetzgeber aufstellen würde“.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/122>, abgerufen am 20.05.2024.