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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
zwei Nachbarn streitig ist, ob der eine, der bauen will, sein
Haus an die Grenze stellen dürfe oder einen Abstand ein-
halten müsse (und das Gesetz darüber keine Vorschrift enthält),
so kann der Richter dem Bauenden nicht erklären: Du bist
nicht verpflichtet, von der Grenze abzurücken, ohne dem an-
deren zu sagen: Du bist nicht berechtigt, den Abstand zu ver-
langen; oder umgekehrt: wenn er dem Bauenden sagt: Du bist
verpflichtet, einen Zwischenraum zu lassen, so erklärt er dem
anderen: Du bist nicht verpflichtet, den Bau an der Grenze zu
dulden. Denn es handelt sich um korrelative Rechte und Pflichten.
Der eine ist gegenüber dem anderen verpflichtet oder nicht
verpflichtet, und die Pflicht des einen, Abstand zu halten, kann
nicht bejaht werden, ohne daß auch das Recht des anderen, daß
Abstand gehalten werde, bejaht würde; oder umgekehrt: jene
Pflicht kann nicht verneint werden (das Recht auf die volle Aus-
nutzung der Fläche kann nicht bejaht werden), ohne daß die
Pflicht des anderen, diesen Bau zu dulden, bejaht würde. Im Ver-
hältnis eines zum anderen besteht die Pflicht; seinetwegen; und
nur im Verhältnis zum anderen. Wenn dieser verzichtet, wenn er
dem Verpflichteten seine Pflicht erläßt, so fällt sie dahin, und darin
eben äußert sich die Berechtigung, das subjektive Recht, dieses
anderen (vgl. oben S. 75). Diese Korrelativität von Pflicht und
Recht bedeutet aber nicht nur, daß der Verpflichtete nur solange
gebunden bleibt, als der Berechtigte es will, sondern auch, daß
jeder soweit berechtigt ist, als der andere nicht berechtigt ist und
umgekehrt. Wenn ich dem A gegenüber verpflichtet bin, ihm
eine Sache zu übergeben, so ist er berechtigt, sie zu fordern; wenn
ich aber nicht verpflichtet bin, sie ihm zu übergeben, so ist er ver-
pflichtet, sie mir zu lassen. Tertium non datur. Man kann die
Pflicht des A (gegenüber dem B) nicht verneinen, ohne eine ent-
sprechende Pflicht des B gegenüber dem A zu bejahen. Das ist
eben die Eigenart des Privatrechts. Den Privaten ist durch das
öffentliche (zwingende) Recht ein bestimmtes Gebiet zugeschieden,
in das sie sich teilen müssen; durch Abmessung ihrer subjektiven
(d. h. Im Verhältnis zueinander) bestehenden Berechtigungen und
Verpflichtungen. Man spricht hier nicht mit Unrecht bildlich
von sich gegenseitig begrenzenden Kreisen, die alle zusammen
einen bestimmten Raum ausfüllen und gegeneinander in ver-

I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
zwei Nachbarn streitig ist, ob der eine, der bauen will, sein
Haus an die Grenze stellen dürfe oder einen Abstand ein-
halten müsse (und das Gesetz darüber keine Vorschrift enthält),
so kann der Richter dem Bauenden nicht erklären: Du bist
nicht verpflichtet, von der Grenze abzurücken, ohne dem an-
deren zu sagen: Du bist nicht berechtigt, den Abstand zu ver-
langen; oder umgekehrt: wenn er dem Bauenden sagt: Du bist
verpflichtet, einen Zwischenraum zu lassen, so erklärt er dem
anderen: Du bist nicht verpflichtet, den Bau an der Grenze zu
dulden. Denn es handelt sich um korrelative Rechte und Pflichten.
Der eine ist gegenüber dem anderen verpflichtet oder nicht
verpflichtet, und die Pflicht des einen, Abstand zu halten, kann
nicht bejaht werden, ohne daß auch das Recht des anderen, daß
Abstand gehalten werde, bejaht würde; oder umgekehrt: jene
Pflicht kann nicht verneint werden (das Recht auf die volle Aus-
nutzung der Fläche kann nicht bejaht werden), ohne daß die
Pflicht des anderen, diesen Bau zu dulden, bejaht würde. Im Ver-
hältnis eines zum anderen besteht die Pflicht; seinetwegen; und
nur im Verhältnis zum anderen. Wenn dieser verzichtet, wenn er
dem Verpflichteten seine Pflicht erläßt, so fällt sie dahin, und darin
eben äußert sich die Berechtigung, das subjektive Recht, dieses
anderen (vgl. oben S. 75). Diese Korrelativität von Pflicht und
Recht bedeutet aber nicht nur, daß der Verpflichtete nur solange
gebunden bleibt, als der Berechtigte es will, sondern auch, daß
jeder soweit berechtigt ist, als der andere nicht berechtigt ist und
umgekehrt. Wenn ich dem A gegenüber verpflichtet bin, ihm
eine Sache zu übergeben, so ist er berechtigt, sie zu fordern; wenn
ich aber nicht verpflichtet bin, sie ihm zu übergeben, so ist er ver-
pflichtet, sie mir zu lassen. Tertium non datur. Man kann die
Pflicht des A (gegenüber dem B) nicht verneinen, ohne eine ent-
sprechende Pflicht des B gegenüber dem A zu bejahen. Das ist
eben die Eigenart des Privatrechts. Den Privaten ist durch das
öffentliche (zwingende) Recht ein bestimmtes Gebiet zugeschieden,
in das sie sich teilen müssen; durch Abmessung ihrer subjektiven
(d. h. Im Verhältnis zueinander) bestehenden Berechtigungen und
Verpflichtungen. Man spricht hier nicht mit Unrecht bildlich
von sich gegenseitig begrenzenden Kreisen, die alle zusammen
einen bestimmten Raum ausfüllen und gegeneinander in ver-

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[108/0123] I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht. zwei Nachbarn streitig ist, ob der eine, der bauen will, sein Haus an die Grenze stellen dürfe oder einen Abstand ein- halten müsse (und das Gesetz darüber keine Vorschrift enthält), so kann der Richter dem Bauenden nicht erklären: Du bist nicht verpflichtet, von der Grenze abzurücken, ohne dem an- deren zu sagen: Du bist nicht berechtigt, den Abstand zu ver- langen; oder umgekehrt: wenn er dem Bauenden sagt: Du bist verpflichtet, einen Zwischenraum zu lassen, so erklärt er dem anderen: Du bist nicht verpflichtet, den Bau an der Grenze zu dulden. Denn es handelt sich um korrelative Rechte und Pflichten. Der eine ist gegenüber dem anderen verpflichtet oder nicht verpflichtet, und die Pflicht des einen, Abstand zu halten, kann nicht bejaht werden, ohne daß auch das Recht des anderen, daß Abstand gehalten werde, bejaht würde; oder umgekehrt: jene Pflicht kann nicht verneint werden (das Recht auf die volle Aus- nutzung der Fläche kann nicht bejaht werden), ohne daß die Pflicht des anderen, diesen Bau zu dulden, bejaht würde. Im Ver- hältnis eines zum anderen besteht die Pflicht; seinetwegen; und nur im Verhältnis zum anderen. Wenn dieser verzichtet, wenn er dem Verpflichteten seine Pflicht erläßt, so fällt sie dahin, und darin eben äußert sich die Berechtigung, das subjektive Recht, dieses anderen (vgl. oben S. 75). Diese Korrelativität von Pflicht und Recht bedeutet aber nicht nur, daß der Verpflichtete nur solange gebunden bleibt, als der Berechtigte es will, sondern auch, daß jeder soweit berechtigt ist, als der andere nicht berechtigt ist und umgekehrt. Wenn ich dem A gegenüber verpflichtet bin, ihm eine Sache zu übergeben, so ist er berechtigt, sie zu fordern; wenn ich aber nicht verpflichtet bin, sie ihm zu übergeben, so ist er ver- pflichtet, sie mir zu lassen. Tertium non datur. Man kann die Pflicht des A (gegenüber dem B) nicht verneinen, ohne eine ent- sprechende Pflicht des B gegenüber dem A zu bejahen. Das ist eben die Eigenart des Privatrechts. Den Privaten ist durch das öffentliche (zwingende) Recht ein bestimmtes Gebiet zugeschieden, in das sie sich teilen müssen; durch Abmessung ihrer subjektiven (d. h. Im Verhältnis zueinander) bestehenden Berechtigungen und Verpflichtungen. Man spricht hier nicht mit Unrecht bildlich von sich gegenseitig begrenzenden Kreisen, die alle zusammen einen bestimmten Raum ausfüllen und gegeneinander in ver-

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/123>, abgerufen am 24.11.2024.