Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geltung des Rechts.
abstrakten Organisationsgrundsätze in die konkrete Wirklichkeit,
auf die Anwendung dieser Grundsätze auf die Individualität (die
Eigenart) des zu konstituierenden Staates (S. 277). Wenn es sich
z. B. als vernünftig herausgestellt hat, daß das Volk die gesetz-
gebende Versammlung auf drei Jahre in Einerwahlkreisen von je
50000 Einwohnern wähle, so müssen diese Wahlkreise auch be-
stimmt werden, damit die Wahlen vor sich gehen können, und das
ist keine grundsätzliche Frage mehr; es muß bestimmt werden,
wann die Amtsdauer beginne, wo die Wähler zusammentreten
sollen u. a. m.1 Wie man alle diese Fragen entscheide, ist grund-
sätzlich gleichgültig; aber sie müssen irgendwie entschieden
werden, wenn die Verfassung in Wirksamkeit treten soll. Man kann
sie daher auch (mit objektivster Methode) nicht rationell lösen,
sondern nur willkürlich; man muß sich darüber verständigen.
Wenn man diese irrationalen Momente in der Verfassung
berücksichtigt, muß man zugeben, daß die Lehre vom Gesell-
schaftsvertrag
einen berechtigten Gedanken enthält. Die Ver-
bindlichkeit des Grundsatzes einer staatlichen Gemeinschaft kann
selbstverständlich nicht aus einem Vertrag erklärt werden; nicht
das Rechtsverbindliche am (privatrechtlichen) Vertrag ist es, das
hier zutrifft, sondern das Zufällige, Willkürliche, Irrationale seines
Zustandekommens, wie es bei jedem Vertrag in der freien, d. h.
rechtlich ungebundenen, Entschließung der Vertragsparteien ge-
geben ist2. Daß ein Vertrag abgeschlossen wird, und wie er (in-
nert der Grenzen der Vertragsfreiheit) abgeschlossen wird, ist ein
Zufall; und ebenso ist, wie wir gesehen haben, das Zustandekommen
einer Verfassung (unter den unvollkommenen Menschen) rationell
ein Zufall. Denn wenn auch alle Beteiligten sich (in ihrer Art)

1 Vgl. Burckhardt, Die Unvollkommenheit des Völkerrechts (1923)
11. Dagegen ist es nicht richtig, alle genauen, besonders die zahlen-
mäßigen Abmessungen als willkürlich hinzustellen, z. B. die Bemessung
der Wahlkreise auf 50000 Einwohner, die der Amtsdauer auf drei Jahre,
Gewiß wird man nicht leicht begründen können, daß 50000 richtiger sei
als 51000 oder gar als 50001 und als 49999; aber grundsätzlich ist die Zahl
eben doch nicht gleichgültig, wie schon die Wahl zwischen zwei-, drei- und
vierjähriger Amtsdauer zeigt; nur die kleinsten Unterschiede lassen sich
nicht gegeneinander sicher bewerten, weil die rechtliche Bewertung keine
mathematische Operation ist.
2 Vgl. W. Burckhardt, Der Vertrag 6, und oben S. 4.

Die Geltung des Rechts.
abstrakten Organisationsgrundsätze in die konkrete Wirklichkeit,
auf die Anwendung dieser Grundsätze auf die Individualität (die
Eigenart) des zu konstituierenden Staates (S. 277). Wenn es sich
z. B. als vernünftig herausgestellt hat, daß das Volk die gesetz-
gebende Versammlung auf drei Jahre in Einerwahlkreisen von je
50000 Einwohnern wähle, so müssen diese Wahlkreise auch be-
stimmt werden, damit die Wahlen vor sich gehen können, und das
ist keine grundsätzliche Frage mehr; es muß bestimmt werden,
wann die Amtsdauer beginne, wo die Wähler zusammentreten
sollen u. a. m.1 Wie man alle diese Fragen entscheide, ist grund-
sätzlich gleichgültig; aber sie müssen irgendwie entschieden
werden, wenn die Verfassung in Wirksamkeit treten soll. Man kann
sie daher auch (mit objektivster Methode) nicht rationell lösen,
sondern nur willkürlich; man muß sich darüber verständigen.
Wenn man diese irrationalen Momente in der Verfassung
berücksichtigt, muß man zugeben, daß die Lehre vom Gesell-
schaftsvertrag
einen berechtigten Gedanken enthält. Die Ver-
bindlichkeit des Grundsatzes einer staatlichen Gemeinschaft kann
selbstverständlich nicht aus einem Vertrag erklärt werden; nicht
das Rechtsverbindliche am (privatrechtlichen) Vertrag ist es, das
hier zutrifft, sondern das Zufällige, Willkürliche, Irrationale seines
Zustandekommens, wie es bei jedem Vertrag in der freien, d. h.
rechtlich ungebundenen, Entschließung der Vertragsparteien ge-
geben ist2. Daß ein Vertrag abgeschlossen wird, und wie er (in-
nert der Grenzen der Vertragsfreiheit) abgeschlossen wird, ist ein
Zufall; und ebenso ist, wie wir gesehen haben, das Zustandekommen
einer Verfassung (unter den unvollkommenen Menschen) rationell
ein Zufall. Denn wenn auch alle Beteiligten sich (in ihrer Art)

1 Vgl. Burckhardt, Die Unvollkommenheit des Völkerrechts (1923)
11. Dagegen ist es nicht richtig, alle genauen, besonders die zahlen-
mäßigen Abmessungen als willkürlich hinzustellen, z. B. die Bemessung
der Wahlkreise auf 50000 Einwohner, die der Amtsdauer auf drei Jahre,
Gewiß wird man nicht leicht begründen können, daß 50000 richtiger sei
als 51000 oder gar als 50001 und als 49999; aber grundsätzlich ist die Zahl
eben doch nicht gleichgültig, wie schon die Wahl zwischen zwei-, drei- und
vierjähriger Amtsdauer zeigt; nur die kleinsten Unterschiede lassen sich
nicht gegeneinander sicher bewerten, weil die rechtliche Bewertung keine
mathematische Operation ist.
2 Vgl. W. Burckhardt, Der Vertrag 6, und oben S. 4.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0206" n="191"/><fw place="top" type="header">Die Geltung des Rechts.</fw><lb/>
abstrakten Organisationsgrundsätze in die konkrete Wirklichkeit,<lb/>
auf die Anwendung dieser Grundsätze auf die Individualität (die<lb/>
Eigenart) des zu konstituierenden Staates (S. 277). Wenn es sich<lb/>
z. B. als vernünftig herausgestellt hat, daß das Volk die gesetz-<lb/>
gebende Versammlung auf drei Jahre in Einerwahlkreisen von je<lb/>
50000 Einwohnern wähle, so müssen diese Wahlkreise auch be-<lb/>
stimmt werden, damit die Wahlen vor sich gehen können, und das<lb/>
ist keine grundsätzliche Frage mehr; es muß bestimmt werden,<lb/>
wann die Amtsdauer beginne, wo die Wähler zusammentreten<lb/>
sollen u. a. m.<note place="foot" n="1">Vgl. <hi rendition="#g">Burckhardt,</hi> Die Unvollkommenheit des Völkerrechts (1923)<lb/>
11. Dagegen ist es nicht richtig, alle genauen, besonders die zahlen-<lb/>
mäßigen Abmessungen als willkürlich hinzustellen, z. B. die Bemessung<lb/>
der Wahlkreise auf 50000 Einwohner, die der Amtsdauer auf drei Jahre,<lb/>
Gewiß wird man nicht leicht begründen können, daß 50000 richtiger sei<lb/>
als 51000 oder gar als 50001 und als 49999; aber grundsätzlich ist die Zahl<lb/>
eben doch nicht gleichgültig, wie schon die Wahl zwischen zwei-, drei- und<lb/>
vierjähriger Amtsdauer zeigt; nur die kleinsten Unterschiede lassen sich<lb/>
nicht gegeneinander sicher bewerten, weil die rechtliche Bewertung keine<lb/>
mathematische Operation ist.</note> Wie man alle diese Fragen entscheide, ist grund-<lb/>
sätzlich gleichgültig; aber sie müssen irgendwie entschieden<lb/>
werden, wenn die Verfassung in Wirksamkeit treten soll. Man kann<lb/>
sie daher auch (mit objektivster Methode) nicht rationell lösen,<lb/>
sondern nur willkürlich; man muß sich darüber verständigen.<lb/>
Wenn man diese irrationalen Momente in der Verfassung<lb/>
berücksichtigt, muß man zugeben, daß die Lehre vom <hi rendition="#b">Gesell-<lb/>
schaftsvertrag</hi> einen berechtigten Gedanken enthält. Die Ver-<lb/>
bindlichkeit des Grundsatzes einer staatlichen Gemeinschaft kann<lb/>
selbstverständlich nicht aus einem Vertrag erklärt werden; nicht<lb/>
das Rechtsverbindliche am (privatrechtlichen) Vertrag ist es, das<lb/>
hier zutrifft, sondern das Zufällige, Willkürliche, Irrationale seines<lb/>
Zustandekommens, wie es bei jedem Vertrag in der freien, d. h.<lb/>
rechtlich ungebundenen, Entschließung der Vertragsparteien ge-<lb/>
geben ist<note place="foot" n="2">Vgl. W. <hi rendition="#g">Burckhardt,</hi> Der Vertrag 6, und oben S. 4.</note>. Daß ein Vertrag abgeschlossen wird, und wie er (in-<lb/>
nert der Grenzen der Vertragsfreiheit) abgeschlossen wird, ist ein<lb/>
Zufall; und ebenso ist, wie wir gesehen haben, das Zustandekommen<lb/>
einer Verfassung (unter den unvollkommenen Menschen) rationell<lb/>
ein Zufall. Denn wenn auch alle Beteiligten sich (in ihrer Art)<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0206] Die Geltung des Rechts. abstrakten Organisationsgrundsätze in die konkrete Wirklichkeit, auf die Anwendung dieser Grundsätze auf die Individualität (die Eigenart) des zu konstituierenden Staates (S. 277). Wenn es sich z. B. als vernünftig herausgestellt hat, daß das Volk die gesetz- gebende Versammlung auf drei Jahre in Einerwahlkreisen von je 50000 Einwohnern wähle, so müssen diese Wahlkreise auch be- stimmt werden, damit die Wahlen vor sich gehen können, und das ist keine grundsätzliche Frage mehr; es muß bestimmt werden, wann die Amtsdauer beginne, wo die Wähler zusammentreten sollen u. a. m. 1 Wie man alle diese Fragen entscheide, ist grund- sätzlich gleichgültig; aber sie müssen irgendwie entschieden werden, wenn die Verfassung in Wirksamkeit treten soll. Man kann sie daher auch (mit objektivster Methode) nicht rationell lösen, sondern nur willkürlich; man muß sich darüber verständigen. Wenn man diese irrationalen Momente in der Verfassung berücksichtigt, muß man zugeben, daß die Lehre vom Gesell- schaftsvertrag einen berechtigten Gedanken enthält. Die Ver- bindlichkeit des Grundsatzes einer staatlichen Gemeinschaft kann selbstverständlich nicht aus einem Vertrag erklärt werden; nicht das Rechtsverbindliche am (privatrechtlichen) Vertrag ist es, das hier zutrifft, sondern das Zufällige, Willkürliche, Irrationale seines Zustandekommens, wie es bei jedem Vertrag in der freien, d. h. rechtlich ungebundenen, Entschließung der Vertragsparteien ge- geben ist 2. Daß ein Vertrag abgeschlossen wird, und wie er (in- nert der Grenzen der Vertragsfreiheit) abgeschlossen wird, ist ein Zufall; und ebenso ist, wie wir gesehen haben, das Zustandekommen einer Verfassung (unter den unvollkommenen Menschen) rationell ein Zufall. Denn wenn auch alle Beteiligten sich (in ihrer Art) 1 Vgl. Burckhardt, Die Unvollkommenheit des Völkerrechts (1923) 11. Dagegen ist es nicht richtig, alle genauen, besonders die zahlen- mäßigen Abmessungen als willkürlich hinzustellen, z. B. die Bemessung der Wahlkreise auf 50000 Einwohner, die der Amtsdauer auf drei Jahre, Gewiß wird man nicht leicht begründen können, daß 50000 richtiger sei als 51000 oder gar als 50001 und als 49999; aber grundsätzlich ist die Zahl eben doch nicht gleichgültig, wie schon die Wahl zwischen zwei-, drei- und vierjähriger Amtsdauer zeigt; nur die kleinsten Unterschiede lassen sich nicht gegeneinander sicher bewerten, weil die rechtliche Bewertung keine mathematische Operation ist. 2 Vgl. W. Burckhardt, Der Vertrag 6, und oben S. 4.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/206
Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/206>, abgerufen am 21.11.2024.