Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.II. Teil. Die staatliche Verfassung. gewissenhaft an die Weisungen der Vernunft halten wollten, sowürden sie nicht mit Sicherheit zu einer vernünftigen Verfassung, ja überhaupt zu einer Verfassung gelangen1. Wie einem Volk die Grundlagen seiner gesellschaftlichen Ordnung lange Zeit mit undiskutierbarer Selbstverständlichkeit feststehen können, so kann dasselbe Volk auch in Zeiten geistiger Umbildung lange nach einer neuen Verfassung suchen müssen, so daß es aus eigener Kraft aus der Unsicherheit und der Unordnung nicht mehr heraus- kommt und ein Gewaltstreich den gordischen Knoten zerhauen muß. Jedes Volk hat solche Zeiten durchgemacht. Deshalb mag jedes Volk sich wohl überlegen, ehe es den Boden der Verfassung, über die man sich einmal geeinigt hat, verläßt, um eine bessere ausfindig zu machen; es sollte nicht geschehen ohne den festen Plan einer besseren Verfassung und ohne die begründete Aussicht dafür, daß dieser Plan auch die zu seiner Durchführung erforder- liche Unterstützung finden wird. Es ist ein frevelhaftes Unter- nehmen, eine bestehende Verfassung zugrunde zu richten, aufs Geratewohl, ohne klares Ziel und ohne übersehbaren Weg; eine solche Bewegung könnte leicht auch in der Anarchie stecken bleiben oder hinter den Ausgangspunkt zurückführen2. Wegen dieses unberechenbaren, zufälligen Momentes ist der Legitimismus verhältnismäßig berechtigt, die Lehre nämlich, daß neues Recht nur im Rahmen des bestehenden (Verfassungs-) Rechtes geschaffen werden darf; denn wenn man diesen Rahmen zerbricht, besteht keine Gewähr dafür, daß ein neuer gezimmert werden kann, auch wenn alle der Stimme der Vernunft (ihrer Vernunft!) folgen. Nicht von ungefähr haben die politisch be- 1 "Ob es gleich ein Zwangsrecht überhaupt gibt, daß jeder in eine bür- gerliche Verfassung überhaupt trete, so gibt es doch kein Zwangsrecht, daß er bestimmt in diese trete." Fichte, Naturrecht (1796); Werke I 198. Vgl. Max Weber, Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922) 444: "Ver- bandsordnungen entstehen immer dank einem durchschnittlichen Einver- ständnis." Wenn damit die Zustimmung der Mehrheit gemeint sein soll, so ist es tatsächlich kaum richtig; richtig ist aber die Zufälligkeit dieses Zustandekommens. 2 "Wenn Gefahr besteht, daß man statt einer Reform des Staates sei-
nen Umsturz herbeiführt, ist es besser, daß man den schlechtesten Staat als gar keinen Staat behält." Machiavelli, Principe, Buch 4, c. 3. Fries, Philosophische Rechtslehre 84. II. Teil. Die staatliche Verfassung. gewissenhaft an die Weisungen der Vernunft halten wollten, sowürden sie nicht mit Sicherheit zu einer vernünftigen Verfassung, ja überhaupt zu einer Verfassung gelangen1. Wie einem Volk die Grundlagen seiner gesellschaftlichen Ordnung lange Zeit mit undiskutierbarer Selbstverständlichkeit feststehen können, so kann dasselbe Volk auch in Zeiten geistiger Umbildung lange nach einer neuen Verfassung suchen müssen, so daß es aus eigener Kraft aus der Unsicherheit und der Unordnung nicht mehr heraus- kommt und ein Gewaltstreich den gordischen Knoten zerhauen muß. Jedes Volk hat solche Zeiten durchgemacht. Deshalb mag jedes Volk sich wohl überlegen, ehe es den Boden der Verfassung, über die man sich einmal geeinigt hat, verläßt, um eine bessere ausfindig zu machen; es sollte nicht geschehen ohne den festen Plan einer besseren Verfassung und ohne die begründete Aussicht dafür, daß dieser Plan auch die zu seiner Durchführung erforder- liche Unterstützung finden wird. Es ist ein frevelhaftes Unter- nehmen, eine bestehende Verfassung zugrunde zu richten, aufs Geratewohl, ohne klares Ziel und ohne übersehbaren Weg; eine solche Bewegung könnte leicht auch in der Anarchie stecken bleiben oder hinter den Ausgangspunkt zurückführen2. Wegen dieses unberechenbaren, zufälligen Momentes ist der Legitimismus verhältnismäßig berechtigt, die Lehre nämlich, daß neues Recht nur im Rahmen des bestehenden (Verfassungs-) Rechtes geschaffen werden darf; denn wenn man diesen Rahmen zerbricht, besteht keine Gewähr dafür, daß ein neuer gezimmert werden kann, auch wenn alle der Stimme der Vernunft (ihrer Vernunft!) folgen. Nicht von ungefähr haben die politisch be- 1 „Ob es gleich ein Zwangsrecht überhaupt gibt, daß jeder in eine bür- gerliche Verfassung überhaupt trete, so gibt es doch kein Zwangsrecht, daß er bestimmt in diese trete.“ Fichte, Naturrecht (1796); Werke I 198. Vgl. Max Weber, Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922) 444: „Ver- bandsordnungen entstehen immer dank einem durchschnittlichen Einver- ständnis.“ Wenn damit die Zustimmung der Mehrheit gemeint sein soll, so ist es tatsächlich kaum richtig; richtig ist aber die Zufälligkeit dieses Zustandekommens. 2 „Wenn Gefahr besteht, daß man statt einer Reform des Staates sei-
nen Umsturz herbeiführt, ist es besser, daß man den schlechtesten Staat als gar keinen Staat behält.“ Machiavelli, Principe, Buch 4, c. 3. Fries, Philosophische Rechtslehre 84. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0207" n="192"/><fw place="top" type="header">II. Teil. Die staatliche Verfassung.</fw><lb/> gewissenhaft an die Weisungen der Vernunft halten wollten, so<lb/> würden sie nicht mit Sicherheit zu einer vernünftigen Verfassung,<lb/> ja überhaupt zu einer Verfassung gelangen<note place="foot" n="1">„Ob es gleich ein Zwangsrecht überhaupt gibt, daß jeder in eine bür-<lb/> gerliche Verfassung überhaupt trete, so gibt es doch kein Zwangsrecht, daß<lb/> er bestimmt in diese trete.“ <hi rendition="#g">Fichte,</hi> Naturrecht (1796); Werke I 198.<lb/> Vgl. <hi rendition="#g">Max Weber,</hi> Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922) 444: „Ver-<lb/> bandsordnungen entstehen immer dank einem durchschnittlichen Einver-<lb/> ständnis.“ Wenn damit die Zustimmung der Mehrheit gemeint sein soll,<lb/> so ist es tatsächlich kaum richtig; richtig ist aber die Zufälligkeit dieses<lb/> Zustandekommens.</note>. Wie einem Volk die<lb/> Grundlagen seiner gesellschaftlichen Ordnung lange Zeit mit<lb/> undiskutierbarer Selbstverständlichkeit feststehen können, so<lb/> kann dasselbe Volk auch in Zeiten geistiger Umbildung lange<lb/> nach einer neuen Verfassung suchen müssen, so daß es aus eigener<lb/> Kraft aus der Unsicherheit und der Unordnung nicht mehr heraus-<lb/> kommt und ein Gewaltstreich den gordischen Knoten zerhauen<lb/> muß. Jedes Volk hat solche Zeiten durchgemacht. Deshalb mag<lb/> jedes Volk sich wohl überlegen, ehe es den Boden der Verfassung,<lb/> über die man sich einmal geeinigt hat, verläßt, um eine bessere<lb/> ausfindig zu machen; es sollte nicht geschehen ohne den festen<lb/> Plan einer besseren Verfassung und ohne die begründete Aussicht<lb/> dafür, daß dieser Plan auch die zu seiner Durchführung erforder-<lb/> liche Unterstützung finden wird. Es ist ein frevelhaftes Unter-<lb/> nehmen, eine bestehende Verfassung zugrunde zu richten, aufs<lb/> Geratewohl, ohne klares Ziel und ohne übersehbaren Weg; eine<lb/> solche Bewegung könnte leicht auch in der Anarchie stecken bleiben<lb/> oder hinter den Ausgangspunkt zurückführen<note place="foot" n="2">„Wenn Gefahr besteht, daß man statt einer Reform des Staates sei-<lb/> nen Umsturz herbeiführt, ist es besser, daß man den schlechtesten Staat<lb/> als gar keinen Staat behält.“ <hi rendition="#g">Machiavelli,</hi> Principe, Buch 4, c. 3. <hi rendition="#g">Fries,</hi><lb/> Philosophische Rechtslehre 84.</note>.<lb/> Wegen dieses unberechenbaren, zufälligen Momentes ist der<lb/> Legitimismus verhältnismäßig berechtigt, die Lehre nämlich,<lb/> daß neues Recht nur im Rahmen des bestehenden (Verfassungs-)<lb/> Rechtes geschaffen werden darf; denn wenn man diesen Rahmen<lb/> zerbricht, besteht keine Gewähr dafür, daß ein neuer gezimmert<lb/> werden kann, auch wenn alle der Stimme der Vernunft (ihrer<lb/> Vernunft!) folgen. Nicht von ungefähr haben die politisch be-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [192/0207]
II. Teil. Die staatliche Verfassung.
gewissenhaft an die Weisungen der Vernunft halten wollten, so
würden sie nicht mit Sicherheit zu einer vernünftigen Verfassung,
ja überhaupt zu einer Verfassung gelangen 1. Wie einem Volk die
Grundlagen seiner gesellschaftlichen Ordnung lange Zeit mit
undiskutierbarer Selbstverständlichkeit feststehen können, so
kann dasselbe Volk auch in Zeiten geistiger Umbildung lange
nach einer neuen Verfassung suchen müssen, so daß es aus eigener
Kraft aus der Unsicherheit und der Unordnung nicht mehr heraus-
kommt und ein Gewaltstreich den gordischen Knoten zerhauen
muß. Jedes Volk hat solche Zeiten durchgemacht. Deshalb mag
jedes Volk sich wohl überlegen, ehe es den Boden der Verfassung,
über die man sich einmal geeinigt hat, verläßt, um eine bessere
ausfindig zu machen; es sollte nicht geschehen ohne den festen
Plan einer besseren Verfassung und ohne die begründete Aussicht
dafür, daß dieser Plan auch die zu seiner Durchführung erforder-
liche Unterstützung finden wird. Es ist ein frevelhaftes Unter-
nehmen, eine bestehende Verfassung zugrunde zu richten, aufs
Geratewohl, ohne klares Ziel und ohne übersehbaren Weg; eine
solche Bewegung könnte leicht auch in der Anarchie stecken bleiben
oder hinter den Ausgangspunkt zurückführen 2.
Wegen dieses unberechenbaren, zufälligen Momentes ist der
Legitimismus verhältnismäßig berechtigt, die Lehre nämlich,
daß neues Recht nur im Rahmen des bestehenden (Verfassungs-)
Rechtes geschaffen werden darf; denn wenn man diesen Rahmen
zerbricht, besteht keine Gewähr dafür, daß ein neuer gezimmert
werden kann, auch wenn alle der Stimme der Vernunft (ihrer
Vernunft!) folgen. Nicht von ungefähr haben die politisch be-
1 „Ob es gleich ein Zwangsrecht überhaupt gibt, daß jeder in eine bür-
gerliche Verfassung überhaupt trete, so gibt es doch kein Zwangsrecht, daß
er bestimmt in diese trete.“ Fichte, Naturrecht (1796); Werke I 198.
Vgl. Max Weber, Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922) 444: „Ver-
bandsordnungen entstehen immer dank einem durchschnittlichen Einver-
ständnis.“ Wenn damit die Zustimmung der Mehrheit gemeint sein soll,
so ist es tatsächlich kaum richtig; richtig ist aber die Zufälligkeit dieses
Zustandekommens.
2 „Wenn Gefahr besteht, daß man statt einer Reform des Staates sei-
nen Umsturz herbeiführt, ist es besser, daß man den schlechtesten Staat
als gar keinen Staat behält.“ Machiavelli, Principe, Buch 4, c. 3. Fries,
Philosophische Rechtslehre 84.
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