Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.II. Teil. Die staatliche Verfassung. besondere ihr Recht zur Mitwirkung bei der Gesetzgebung, ab-gelöst hatten, hob sich das Verfassungsrecht vom übrigen Recht scharf ab; denn erst jetzt war es praktisch notwendig geworden, die Gesetzgebungskompetenz zu umschreiben, und dazu gerade sollte die "Verfassung" dienen1; deshalb wurde das neue Ver- fassungsrecht aufgezeichnet und verbrieft. Denn im sachlichen (nicht im politisch-historischen) Sinn hat es eine Verfassung schon vor der konstitutionellen Zeit gegeben. Verfassung ist ja, nach den vorhin angestellten Ausführungen, Kommentar der BV, 2. A. (1914) 1 ff.; Schubert-Soltern, Zur erkenntnis- theoretischen Grundlegung des Verfassungsrechts; Zeitschrift für die ges. Staatswissenschaft 66 613 ff.; Kelsen, Souveränität 97. 1 Über die Unterscheidung von Verfassung und gewöhnlichen Gesetzen
im Naturrechtssystem vgl. v. Herrnritt, Die Staatsform als Gegenstand der Verfassungsgesetzgebung und Verfassungsänderung (1900) 30; betr. die Grundgesetze des alten Frankreichs vgl. E. Zweig, Die Lehre vom pouvoir constituant (Tübingen 1909) 142 ff. und dortige Literatur. Nicht genügend berücksichtigt diese Unterscheidung Kelsen in den Hauptproblemen der Staatsrechtslehre 1911, vgl. S. 410, 428, 439 ff., 466; er spricht aber selbst von einer Grundnorm, als der Voraussetzung der vom Staat gesetzten Norm, und deren "Erzeugung" ein außerhalb des Staates stehender Tat- bestand sei; Vorrede zum Neudruck der Hauptprobleme (1923) S. XIV f.; ähnlich Pitamic in der österr. Zeitschrift für öffentliches Recht III 540. Bierling a. a. O. und Baumgarten, Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methode II (1922) 320, sprechen von einem Recht erster Ordnung; Somlo, Juristische Grundlehre 318, von primären Rechtsnormen. Unklar ist W. Jellineks "oberster Satz aller Rechtsordnungen", Gesetz, Gesetzes- anwendung und Zweckmäßigkeitserwägung (1913) 27 f. Vgl. Cathrein, Recht, Naturrecht und positives Recht (1909) 142. II. Teil. Die staatliche Verfassung. besondere ihr Recht zur Mitwirkung bei der Gesetzgebung, ab-gelöst hatten, hob sich das Verfassungsrecht vom übrigen Recht scharf ab; denn erst jetzt war es praktisch notwendig geworden, die Gesetzgebungskompetenz zu umschreiben, und dazu gerade sollte die „Verfassung“ dienen1; deshalb wurde das neue Ver- fassungsrecht aufgezeichnet und verbrieft. Denn im sachlichen (nicht im politisch-historischen) Sinn hat es eine Verfassung schon vor der konstitutionellen Zeit gegeben. Verfassung ist ja, nach den vorhin angestellten Ausführungen, Kommentar der BV, 2. A. (1914) 1 ff.; Schubert-Soltern, Zur erkenntnis- theoretischen Grundlegung des Verfassungsrechts; Zeitschrift für die ges. Staatswissenschaft 66 613 ff.; Kelsen, Souveränität 97. 1 Über die Unterscheidung von Verfassung und gewöhnlichen Gesetzen
im Naturrechtssystem vgl. v. Herrnritt, Die Staatsform als Gegenstand der Verfassungsgesetzgebung und Verfassungsänderung (1900) 30; betr. die Grundgesetze des alten Frankreichs vgl. E. Zweig, Die Lehre vom pouvoir constituant (Tübingen 1909) 142 ff. und dortige Literatur. Nicht genügend berücksichtigt diese Unterscheidung Kelsen in den Hauptproblemen der Staatsrechtslehre 1911, vgl. S. 410, 428, 439 ff., 466; er spricht aber selbst von einer Grundnorm, als der Voraussetzung der vom Staat gesetzten Norm, und deren „Erzeugung“ ein außerhalb des Staates stehender Tat- bestand sei; Vorrede zum Neudruck der Hauptprobleme (1923) S. XIV f.; ähnlich Pitamic in der österr. Zeitschrift für öffentliches Recht III 540. Bierling a. a. O. und Baumgarten, Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methode II (1922) 320, sprechen von einem Recht erster Ordnung; Somlò, Juristische Grundlehre 318, von primären Rechtsnormen. Unklar ist W. Jellineks „oberster Satz aller Rechtsordnungen“, Gesetz, Gesetzes- anwendung und Zweckmäßigkeitserwägung (1913) 27 f. Vgl. Cathrein, Recht, Naturrecht und positives Recht (1909) 142. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0221" n="206"/><fw place="top" type="header">II. Teil. Die staatliche Verfassung.</fw><lb/> besondere ihr Recht zur Mitwirkung bei der Gesetzgebung, ab-<lb/> gelöst hatten, hob sich das Verfassungsrecht vom übrigen Recht<lb/> scharf ab; denn erst jetzt war es praktisch notwendig geworden,<lb/> die Gesetzgebungskompetenz zu umschreiben, und dazu gerade<lb/> sollte die „Verfassung“ dienen<note place="foot" n="1">Über die Unterscheidung von Verfassung und gewöhnlichen Gesetzen<lb/> im Naturrechtssystem vgl. v. <hi rendition="#g">Herrnritt,</hi> Die Staatsform als Gegenstand<lb/> der Verfassungsgesetzgebung und Verfassungsänderung (1900) 30; betr. die<lb/> Grundgesetze des alten Frankreichs vgl. E. <hi rendition="#g">Zweig,</hi> Die Lehre vom pouvoir<lb/> constituant (Tübingen 1909) 142 ff. und dortige Literatur. Nicht genügend<lb/> berücksichtigt diese Unterscheidung <hi rendition="#g">Kelsen</hi> in den Hauptproblemen der<lb/> Staatsrechtslehre 1911, vgl. S. 410, 428, 439 ff., 466; er spricht aber selbst<lb/> von einer Grundnorm, als der Voraussetzung der vom Staat gesetzten<lb/> Norm, und deren „Erzeugung“ ein außerhalb des Staates stehender Tat-<lb/> bestand sei; Vorrede zum Neudruck der Hauptprobleme (1923) S. <hi rendition="#b">XIV</hi> f.;<lb/> ähnlich <hi rendition="#g">Pitamic</hi> in der österr. Zeitschrift für öffentliches Recht III 540.<lb/><hi rendition="#g">Bierling</hi> a. a. O. und <hi rendition="#g">Baumgarten,</hi> Die Wissenschaft vom Recht und<lb/> ihre Methode II (1922) 320, sprechen von einem Recht erster Ordnung;<lb/><hi rendition="#g">Somlò,</hi> Juristische Grundlehre 318, von primären Rechtsnormen. Unklar<lb/> ist W. <hi rendition="#g">Jellineks</hi> „oberster Satz aller Rechtsordnungen“, Gesetz, Gesetzes-<lb/> anwendung und Zweckmäßigkeitserwägung (1913) 27 f. Vgl. <hi rendition="#g">Cathrein,</hi><lb/> Recht, Naturrecht und positives Recht (1909) 142.</note>; deshalb wurde das neue Ver-<lb/> fassungsrecht aufgezeichnet und verbrieft. Denn im sachlichen<lb/> (nicht im politisch-historischen) Sinn hat es eine Verfassung schon<lb/> vor der konstitutionellen Zeit gegeben.</p><lb/> <p>Verfassung ist ja, nach den vorhin angestellten Ausführungen,<lb/> die grundlegende Zuständigkeitsordnung des Staates, welches sie<lb/> immer sei; die Ordnung, welche bestimmt, wer in einer mensch-<lb/> lichen Gesellschaft letztinstanzlich darüber entscheidet, was, in<lb/> genere oder in specie, rechtens ist. Dadurch wird der Staat organi-<lb/> siert, konstituiert, verfaßt. Es ist nun nicht gesagt, daß in <hi rendition="#g">jedem</hi><lb/> Staat eine besondere Instanz eingesetzt sein müsse mit der Auf-<lb/> gabe, das objektive Recht in abstrakter Formulierung, in Gesetzen,<lb/> zu weisen; viele Jahrhunderte hindurch haben sich Volksgemein-<lb/> schaften damit begnügt, das konkrete Recht zu weisen, durch<lb/> Gerichte und andere rechtsanwendende Behörden (vgl. S. 125),<lb/> und sie waren doch Staaten; denn diesen Behörden stand es damit</p><lb/> <p> <note xml:id="seg2pn_31_2" prev="#seg2pn_31_1" place="foot" n="2">Kommentar der BV, 2. A. (1914) 1 ff.; <hi rendition="#g">Schubert-Soltern,</hi> Zur erkenntnis-<lb/> theoretischen Grundlegung des Verfassungsrechts; Zeitschrift für die ges.<lb/> Staatswissenschaft <hi rendition="#b">66</hi> 613 ff.; <hi rendition="#g">Kelsen,</hi> Souveränität 97.</note><lb/> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [206/0221]
II. Teil. Die staatliche Verfassung.
besondere ihr Recht zur Mitwirkung bei der Gesetzgebung, ab-
gelöst hatten, hob sich das Verfassungsrecht vom übrigen Recht
scharf ab; denn erst jetzt war es praktisch notwendig geworden,
die Gesetzgebungskompetenz zu umschreiben, und dazu gerade
sollte die „Verfassung“ dienen 1; deshalb wurde das neue Ver-
fassungsrecht aufgezeichnet und verbrieft. Denn im sachlichen
(nicht im politisch-historischen) Sinn hat es eine Verfassung schon
vor der konstitutionellen Zeit gegeben.
Verfassung ist ja, nach den vorhin angestellten Ausführungen,
die grundlegende Zuständigkeitsordnung des Staates, welches sie
immer sei; die Ordnung, welche bestimmt, wer in einer mensch-
lichen Gesellschaft letztinstanzlich darüber entscheidet, was, in
genere oder in specie, rechtens ist. Dadurch wird der Staat organi-
siert, konstituiert, verfaßt. Es ist nun nicht gesagt, daß in jedem
Staat eine besondere Instanz eingesetzt sein müsse mit der Auf-
gabe, das objektive Recht in abstrakter Formulierung, in Gesetzen,
zu weisen; viele Jahrhunderte hindurch haben sich Volksgemein-
schaften damit begnügt, das konkrete Recht zu weisen, durch
Gerichte und andere rechtsanwendende Behörden (vgl. S. 125),
und sie waren doch Staaten; denn diesen Behörden stand es damit
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1 Über die Unterscheidung von Verfassung und gewöhnlichen Gesetzen
im Naturrechtssystem vgl. v. Herrnritt, Die Staatsform als Gegenstand
der Verfassungsgesetzgebung und Verfassungsänderung (1900) 30; betr. die
Grundgesetze des alten Frankreichs vgl. E. Zweig, Die Lehre vom pouvoir
constituant (Tübingen 1909) 142 ff. und dortige Literatur. Nicht genügend
berücksichtigt diese Unterscheidung Kelsen in den Hauptproblemen der
Staatsrechtslehre 1911, vgl. S. 410, 428, 439 ff., 466; er spricht aber selbst
von einer Grundnorm, als der Voraussetzung der vom Staat gesetzten
Norm, und deren „Erzeugung“ ein außerhalb des Staates stehender Tat-
bestand sei; Vorrede zum Neudruck der Hauptprobleme (1923) S. XIV f.;
ähnlich Pitamic in der österr. Zeitschrift für öffentliches Recht III 540.
Bierling a. a. O. und Baumgarten, Die Wissenschaft vom Recht und
ihre Methode II (1922) 320, sprechen von einem Recht erster Ordnung;
Somlò, Juristische Grundlehre 318, von primären Rechtsnormen. Unklar
ist W. Jellineks „oberster Satz aller Rechtsordnungen“, Gesetz, Gesetzes-
anwendung und Zweckmäßigkeitserwägung (1913) 27 f. Vgl. Cathrein,
Recht, Naturrecht und positives Recht (1909) 142.
2 Kommentar der BV, 2. A. (1914) 1 ff.; Schubert-Soltern, Zur erkenntnis-
theoretischen Grundlegung des Verfassungsrechts; Zeitschrift für die ges.
Staatswissenschaft 66 613 ff.; Kelsen, Souveränität 97.
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