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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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Die Rechtssetzung.
noch einmal erörtert werden (vgl. oben S. 212). Hier setzen wir die
zur Rechtssetzung berufene Organisation als (im positiven Recht)
gegeben voraus und stellen fest, daß die Rechtssetzung (soweit das
materielle Recht nicht schon mit der Organisation, also in der
Verfassung selbst gegeben ist) eine spezifische Funktion staat-
licher
Organe ist. Ob Rechtssätze auch außerhalb und unab-
hängig von jeder staatlichen Organisation, nämlich durch private
Übung, als Gewohnheitsrecht, Geltung erlangen könne, ist eben-
falls schon untersucht worden (S. 226). Von den unteren Behörden,
denen diese Aufgabe für ein beschränktes Gebiet vom Gesetzgeber
übertragen wird und die sie in der untergeordneten Form von
Verordnungen u. dgl. ausüben, können wir hier absehen.

In was besteht aber die geistige Arbeit des Gesetzgebers; die
Tätigkeit, die wir, im Gegensatz zur juristischen Wirksamkeit
seiner Beschlüsse, die technische genannt haben?

Die Behörde, welcher nach heutigem Verfassungsrecht die
Aufgabe der Rechtssetzung zufällt, ist die gesetzgebende Behörde:
sie hat im Gesetz das praktische Postulat einer gerechten
Rechtsordnung zu verwirklichen1. Das Gesetz muß aber auch
einem logischen Postulate nachkommen: nämlich der Forderung,
die im Begriffe der Rechtssetzung selbst liegt. Was Rechtssetzung
dem Begriffe nach ist, kann nur klar erfaßt werden, wenn man das
gesetzte, positive Recht gegenüberstellt der Idee des Rechts, jener
Forderung, als deren Erfüllung das positive Recht sich ausgibt.
Die Rechtsidee fordert, daß gelte, was gerecht ist; aber sie läßt
unentschieden, was unter den gegebenen, tatsächlichen
Voraussetzungen
gerecht ist; und nur für bestimmte tatsäch-
liche Voraussetzungen kann entschieden werden, was gerecht sei2.

1 Weil sich der Gesetzgeber auf die objektive Autorität des Rechts
beruft (dessen Sprachrohr er sein will) und ein positives, gegebenes Recht
ausdrücken will, setzt er die Rechtssätze in der Regel nicht in die grammati-
kalische Form des Befehles (du sollst), sondern des Urteilssatzes; der
grammatikalische Imperativ klingt wie der Ausdruck eines subjektiven Be-
fehles. Vgl. Binder, Philosophie des Rechts 732, 745.
2 Die Rechtsidee, die wir als Richtlinie des Gesetzgebung betrachten,
ist also nicht im Sinne der unverrückbaren Grundsätze des Naturrechts
zu verstehen, die bereits einen Teil der anwendbaren Rechtssätze bildeten.
Vgl. Gierke, Althusius 297. -- Der Gesetzgeber hat daher, so wenig wie
der das unvollständige Gesetz ergänzende Richter, "apriorische Wertungen"
Burckhardt, Organisation. 16

Die Rechtssetzung.
noch einmal erörtert werden (vgl. oben S. 212). Hier setzen wir die
zur Rechtssetzung berufene Organisation als (im positiven Recht)
gegeben voraus und stellen fest, daß die Rechtssetzung (soweit das
materielle Recht nicht schon mit der Organisation, also in der
Verfassung selbst gegeben ist) eine spezifische Funktion staat-
licher
Organe ist. Ob Rechtssätze auch außerhalb und unab-
hängig von jeder staatlichen Organisation, nämlich durch private
Übung, als Gewohnheitsrecht, Geltung erlangen könne, ist eben-
falls schon untersucht worden (S. 226). Von den unteren Behörden,
denen diese Aufgabe für ein beschränktes Gebiet vom Gesetzgeber
übertragen wird und die sie in der untergeordneten Form von
Verordnungen u. dgl. ausüben, können wir hier absehen.

In was besteht aber die geistige Arbeit des Gesetzgebers; die
Tätigkeit, die wir, im Gegensatz zur juristischen Wirksamkeit
seiner Beschlüsse, die technische genannt haben?

Die Behörde, welcher nach heutigem Verfassungsrecht die
Aufgabe der Rechtssetzung zufällt, ist die gesetzgebende Behörde:
sie hat im Gesetz das praktische Postulat einer gerechten
Rechtsordnung zu verwirklichen1. Das Gesetz muß aber auch
einem logischen Postulate nachkommen: nämlich der Forderung,
die im Begriffe der Rechtssetzung selbst liegt. Was Rechtssetzung
dem Begriffe nach ist, kann nur klar erfaßt werden, wenn man das
gesetzte, positive Recht gegenüberstellt der Idee des Rechts, jener
Forderung, als deren Erfüllung das positive Recht sich ausgibt.
Die Rechtsidee fordert, daß gelte, was gerecht ist; aber sie läßt
unentschieden, was unter den gegebenen, tatsächlichen
Voraussetzungen
gerecht ist; und nur für bestimmte tatsäch-
liche Voraussetzungen kann entschieden werden, was gerecht sei2.

1 Weil sich der Gesetzgeber auf die objektive Autorität des Rechts
beruft (dessen Sprachrohr er sein will) und ein positives, gegebenes Recht
ausdrücken will, setzt er die Rechtssätze in der Regel nicht in die grammati-
kalische Form des Befehles (du sollst), sondern des Urteilssatzes; der
grammatikalische Imperativ klingt wie der Ausdruck eines subjektiven Be-
fehles. Vgl. Binder, Philosophie des Rechts 732, 745.
2 Die Rechtsidee, die wir als Richtlinie des Gesetzgebung betrachten,
ist also nicht im Sinne der unverrückbaren Grundsätze des Naturrechts
zu verstehen, die bereits einen Teil der anwendbaren Rechtssätze bildeten.
Vgl. Gierke, Althusius 297. — Der Gesetzgeber hat daher, so wenig wie
der das unvollständige Gesetz ergänzende Richter, „apriorische Wertungen“
Burckhardt, Organisation. 16
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[241/0256] Die Rechtssetzung. noch einmal erörtert werden (vgl. oben S. 212). Hier setzen wir die zur Rechtssetzung berufene Organisation als (im positiven Recht) gegeben voraus und stellen fest, daß die Rechtssetzung (soweit das materielle Recht nicht schon mit der Organisation, also in der Verfassung selbst gegeben ist) eine spezifische Funktion staat- licher Organe ist. Ob Rechtssätze auch außerhalb und unab- hängig von jeder staatlichen Organisation, nämlich durch private Übung, als Gewohnheitsrecht, Geltung erlangen könne, ist eben- falls schon untersucht worden (S. 226). Von den unteren Behörden, denen diese Aufgabe für ein beschränktes Gebiet vom Gesetzgeber übertragen wird und die sie in der untergeordneten Form von Verordnungen u. dgl. ausüben, können wir hier absehen. In was besteht aber die geistige Arbeit des Gesetzgebers; die Tätigkeit, die wir, im Gegensatz zur juristischen Wirksamkeit seiner Beschlüsse, die technische genannt haben? Die Behörde, welcher nach heutigem Verfassungsrecht die Aufgabe der Rechtssetzung zufällt, ist die gesetzgebende Behörde: sie hat im Gesetz das praktische Postulat einer gerechten Rechtsordnung zu verwirklichen 1. Das Gesetz muß aber auch einem logischen Postulate nachkommen: nämlich der Forderung, die im Begriffe der Rechtssetzung selbst liegt. Was Rechtssetzung dem Begriffe nach ist, kann nur klar erfaßt werden, wenn man das gesetzte, positive Recht gegenüberstellt der Idee des Rechts, jener Forderung, als deren Erfüllung das positive Recht sich ausgibt. Die Rechtsidee fordert, daß gelte, was gerecht ist; aber sie läßt unentschieden, was unter den gegebenen, tatsächlichen Voraussetzungen gerecht ist; und nur für bestimmte tatsäch- liche Voraussetzungen kann entschieden werden, was gerecht sei 2. 1 Weil sich der Gesetzgeber auf die objektive Autorität des Rechts beruft (dessen Sprachrohr er sein will) und ein positives, gegebenes Recht ausdrücken will, setzt er die Rechtssätze in der Regel nicht in die grammati- kalische Form des Befehles (du sollst), sondern des Urteilssatzes; der grammatikalische Imperativ klingt wie der Ausdruck eines subjektiven Be- fehles. Vgl. Binder, Philosophie des Rechts 732, 745. 2 Die Rechtsidee, die wir als Richtlinie des Gesetzgebung betrachten, ist also nicht im Sinne der unverrückbaren Grundsätze des Naturrechts zu verstehen, die bereits einen Teil der anwendbaren Rechtssätze bildeten. Vgl. Gierke, Althusius 297. — Der Gesetzgeber hat daher, so wenig wie der das unvollständige Gesetz ergänzende Richter, „apriorische Wertungen“ Burckhardt, Organisation. 16

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/256>, abgerufen am 21.11.2024.