Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.II. Teil. Die staatliche Verfassung. Das eben soll die gesetzgebende Behörde entscheiden. Daß die zubefolgende Norm gerecht sein soll, ist die anerkannte Forderung alles Rechtes; aber diese Forderung allein ist kein Rechtssatz und ergibt allein keinen Rechtssatz1, da unter verschiedenen tatsäch- lichen Umständen verschiedenes gerecht sein kann. Oder besser: da gar nicht entschieden werden kann, was gerecht ist, ohne daß bestimmte, bekannte tatsächliche Voraussetzungen der Ent- scheidung zugrunde gelegt würden, je nach deren Beschaffenheit sich das Ergebnis bestimmen wird. Die gesetzgebende Behörde muß also Bezug nehmen auf diese tatsächlichen Umstände; aber nicht um die rechtsanwendende Behörde (den Richter) lediglich anzuweisen, die nach diesen Umständen als gerecht erscheinenden Normen zu finden; dadurch löst sie ihre Aufgabe nicht; sie wälzt sie nur auf die Schultern der rechtsanwendenden Behörde (des Richters). Der Gesetzgeber soll vielmehr diesen Behörden und den Rechtsgenossen selbst sagen, was für sie unter den gegenwärtig und hier gegebenen Umständen das Gerechte ist. Er kann also beispielsweise erklären: es ist gerecht und soll deshalb rechtsver- bindlich sein, daß unter der privatrechtlichen Vermögensordnung, vorzunehmen, i. S. von Beling, Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie (1923) 37. 1 Auch nicht "die Grundsätze des richtigen Rechts", wie sie Stamm-
ler, Die Lehre vom richtigen Recht (1902) 201 ff., formuliert; entweder sind sie schon im Begriff des Rechts enthalten ("der Ausschluß der Willkür") oder sie sind nur ein anderer Ausdruck der Forderung ("daß jeder sich der Nächste sein kann"). Vgl. die Postulate des formalen Rechtslehre Nelsons, System der philosophischen Rechtslehre (1920) 64 ff.; was aus dem Begriff des Rechts (76) abgeleitet werden kann, ist allerdings allgemein gültig; aber ob etwas, ein Rechtssatz, daraus abgeleitet werden kann? Dasselbe ist zu sagen gegenüber den "Momenten" oder "Grundsätzen" des Gerechten, die Lasson, System der Rechtsphilosophie (1882) 222, darlegt. Stammler selbst, Rechtsphilosophie § 4, sagt: "Es ist kein einziger Rechtssatz mög- lich, der in der Besonderheit seines Inhaltes unbedingt richtig feststände." Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (1921) 12, 16. -- Darin weicht unsere Meinung ab von der katholischen Natur- rechtslehre mit ihren unverrückbaren "Grundsätzen", wie sie z. B. von Mausbach, Naturrecht und Völkerrecht (1918); Cathrein, Moralphilo- sophie (1893); Recht, Naturrecht und positives Recht (1909); v. Hertling, Recht, Staat und Gesellschaft (1917) u. a. gelehrt wird. Die Kritik des Positivismus ist begründet; aber dem Positivismus kann man nicht einfach "das Naturrecht" in ausschließender Alternative gegenüberstellen. II. Teil. Die staatliche Verfassung. Das eben soll die gesetzgebende Behörde entscheiden. Daß die zubefolgende Norm gerecht sein soll, ist die anerkannte Forderung alles Rechtes; aber diese Forderung allein ist kein Rechtssatz und ergibt allein keinen Rechtssatz1, da unter verschiedenen tatsäch- lichen Umständen verschiedenes gerecht sein kann. Oder besser: da gar nicht entschieden werden kann, was gerecht ist, ohne daß bestimmte, bekannte tatsächliche Voraussetzungen der Ent- scheidung zugrunde gelegt würden, je nach deren Beschaffenheit sich das Ergebnis bestimmen wird. Die gesetzgebende Behörde muß also Bezug nehmen auf diese tatsächlichen Umstände; aber nicht um die rechtsanwendende Behörde (den Richter) lediglich anzuweisen, die nach diesen Umständen als gerecht erscheinenden Normen zu finden; dadurch löst sie ihre Aufgabe nicht; sie wälzt sie nur auf die Schultern der rechtsanwendenden Behörde (des Richters). Der Gesetzgeber soll vielmehr diesen Behörden und den Rechtsgenossen selbst sagen, was für sie unter den gegenwärtig und hier gegebenen Umständen das Gerechte ist. Er kann also beispielsweise erklären: es ist gerecht und soll deshalb rechtsver- bindlich sein, daß unter der privatrechtlichen Vermögensordnung, vorzunehmen, i. S. von Beling, Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie (1923) 37. 1 Auch nicht „die Grundsätze des richtigen Rechts“, wie sie Stamm-
ler, Die Lehre vom richtigen Recht (1902) 201 ff., formuliert; entweder sind sie schon im Begriff des Rechts enthalten („der Ausschluß der Willkür“) oder sie sind nur ein anderer Ausdruck der Forderung („daß jeder sich der Nächste sein kann“). Vgl. die Postulate des formalen Rechtslehre Nelsons, System der philosophischen Rechtslehre (1920) 64 ff.; was aus dem Begriff des Rechts (76) abgeleitet werden kann, ist allerdings allgemein gültig; aber ob etwas, ein Rechtssatz, daraus abgeleitet werden kann? Dasselbe ist zu sagen gegenüber den „Momenten“ oder „Grundsätzen“ des Gerechten, die Lasson, System der Rechtsphilosophie (1882) 222, darlegt. Stammler selbst, Rechtsphilosophie § 4, sagt: „Es ist kein einziger Rechtssatz mög- lich, der in der Besonderheit seines Inhaltes unbedingt richtig feststände.“ Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (1921) 12, 16. — Darin weicht unsere Meinung ab von der katholischen Natur- rechtslehre mit ihren unverrückbaren „Grundsätzen“, wie sie z. B. von Mausbach, Naturrecht und Völkerrecht (1918); Cathrein, Moralphilo- sophie (1893); Recht, Naturrecht und positives Recht (1909); v. Hertling, Recht, Staat und Gesellschaft (1917) u. a. gelehrt wird. Die Kritik des Positivismus ist begründet; aber dem Positivismus kann man nicht einfach „das Naturrecht“ in ausschließender Alternative gegenüberstellen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0257" n="242"/><fw place="top" type="header">II. Teil. Die staatliche Verfassung.</fw><lb/> Das eben soll die gesetzgebende Behörde entscheiden. Daß die zu<lb/> befolgende Norm gerecht sein soll, ist die anerkannte Forderung<lb/> alles Rechtes; aber diese Forderung allein ist kein Rechtssatz und<lb/> ergibt allein keinen Rechtssatz<note place="foot" n="1">Auch nicht „die Grundsätze des richtigen Rechts“, wie sie <hi rendition="#g">Stamm-<lb/> ler,</hi> Die Lehre vom richtigen Recht (1902) 201 ff., formuliert; entweder sind<lb/> sie schon im Begriff des Rechts enthalten („der Ausschluß der Willkür“) oder<lb/> sie sind nur ein anderer Ausdruck der Forderung („daß jeder sich der Nächste<lb/> sein kann“). Vgl. die Postulate des formalen Rechtslehre <hi rendition="#g">Nelsons,</hi> System<lb/> der philosophischen Rechtslehre (1920) 64 ff.; was aus dem Begriff des<lb/> Rechts (76) abgeleitet werden kann, ist allerdings allgemein gültig; aber<lb/> ob etwas, ein Rechtssatz, daraus abgeleitet werden kann? Dasselbe ist<lb/> zu sagen gegenüber den „Momenten“ oder „Grundsätzen“ des Gerechten,<lb/> die <hi rendition="#g">Lasson,</hi> System der Rechtsphilosophie (1882) 222, darlegt. <hi rendition="#g">Stammler</hi><lb/> selbst, Rechtsphilosophie § 4, sagt: „Es ist kein einziger Rechtssatz mög-<lb/> lich, der in der Besonderheit seines Inhaltes unbedingt richtig feststände.“<lb/><hi rendition="#g">Erich Kaufmann,</hi> Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (1921)<lb/> 12, 16. — Darin weicht unsere Meinung ab von der katholischen Natur-<lb/> rechtslehre mit ihren unverrückbaren „Grundsätzen“, wie sie z. B. von<lb/><hi rendition="#g">Mausbach,</hi> Naturrecht und Völkerrecht (1918); <hi rendition="#g">Cathrein,</hi> Moralphilo-<lb/> sophie (1893); Recht, Naturrecht und positives Recht (1909); v. <hi rendition="#g">Hertling,</hi><lb/> Recht, Staat und Gesellschaft (1917) u. a. gelehrt wird. Die Kritik des<lb/> Positivismus ist begründet; aber dem Positivismus kann man nicht einfach<lb/> „das Naturrecht“ in ausschließender Alternative gegenüberstellen.</note>, da unter verschiedenen tatsäch-<lb/> lichen Umständen verschiedenes gerecht sein kann. Oder besser:<lb/> da gar nicht entschieden werden kann, was gerecht ist, ohne daß<lb/> bestimmte, bekannte tatsächliche Voraussetzungen der Ent-<lb/> scheidung zugrunde gelegt würden, je nach deren Beschaffenheit<lb/> sich das Ergebnis bestimmen wird. Die gesetzgebende Behörde<lb/> muß also Bezug nehmen auf diese tatsächlichen Umstände; aber<lb/> nicht um die rechtsanwendende Behörde (den Richter) lediglich<lb/> anzuweisen, die nach diesen Umständen als gerecht erscheinenden<lb/> Normen zu finden; dadurch löst sie ihre Aufgabe nicht; sie wälzt<lb/> sie nur auf die Schultern der rechtsanwendenden Behörde (des<lb/> Richters). Der Gesetzgeber soll vielmehr diesen Behörden und den<lb/> Rechtsgenossen selbst sagen, <hi rendition="#g">was</hi> für sie unter den gegenwärtig<lb/> und hier gegebenen Umständen das Gerechte ist. Er kann also<lb/> beispielsweise erklären: es ist gerecht und soll deshalb rechtsver-<lb/> bindlich sein, daß unter der privatrechtlichen Vermögensordnung,<lb/><note xml:id="seg2pn_37_2" prev="#seg2pn_37_1" place="foot" n="2">vorzunehmen, i. S. von <hi rendition="#g">Beling,</hi> Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie<lb/> (1923) 37.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [242/0257]
II. Teil. Die staatliche Verfassung.
Das eben soll die gesetzgebende Behörde entscheiden. Daß die zu
befolgende Norm gerecht sein soll, ist die anerkannte Forderung
alles Rechtes; aber diese Forderung allein ist kein Rechtssatz und
ergibt allein keinen Rechtssatz 1, da unter verschiedenen tatsäch-
lichen Umständen verschiedenes gerecht sein kann. Oder besser:
da gar nicht entschieden werden kann, was gerecht ist, ohne daß
bestimmte, bekannte tatsächliche Voraussetzungen der Ent-
scheidung zugrunde gelegt würden, je nach deren Beschaffenheit
sich das Ergebnis bestimmen wird. Die gesetzgebende Behörde
muß also Bezug nehmen auf diese tatsächlichen Umstände; aber
nicht um die rechtsanwendende Behörde (den Richter) lediglich
anzuweisen, die nach diesen Umständen als gerecht erscheinenden
Normen zu finden; dadurch löst sie ihre Aufgabe nicht; sie wälzt
sie nur auf die Schultern der rechtsanwendenden Behörde (des
Richters). Der Gesetzgeber soll vielmehr diesen Behörden und den
Rechtsgenossen selbst sagen, was für sie unter den gegenwärtig
und hier gegebenen Umständen das Gerechte ist. Er kann also
beispielsweise erklären: es ist gerecht und soll deshalb rechtsver-
bindlich sein, daß unter der privatrechtlichen Vermögensordnung,
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1 Auch nicht „die Grundsätze des richtigen Rechts“, wie sie Stamm-
ler, Die Lehre vom richtigen Recht (1902) 201 ff., formuliert; entweder sind
sie schon im Begriff des Rechts enthalten („der Ausschluß der Willkür“) oder
sie sind nur ein anderer Ausdruck der Forderung („daß jeder sich der Nächste
sein kann“). Vgl. die Postulate des formalen Rechtslehre Nelsons, System
der philosophischen Rechtslehre (1920) 64 ff.; was aus dem Begriff des
Rechts (76) abgeleitet werden kann, ist allerdings allgemein gültig; aber
ob etwas, ein Rechtssatz, daraus abgeleitet werden kann? Dasselbe ist
zu sagen gegenüber den „Momenten“ oder „Grundsätzen“ des Gerechten,
die Lasson, System der Rechtsphilosophie (1882) 222, darlegt. Stammler
selbst, Rechtsphilosophie § 4, sagt: „Es ist kein einziger Rechtssatz mög-
lich, der in der Besonderheit seines Inhaltes unbedingt richtig feststände.“
Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (1921)
12, 16. — Darin weicht unsere Meinung ab von der katholischen Natur-
rechtslehre mit ihren unverrückbaren „Grundsätzen“, wie sie z. B. von
Mausbach, Naturrecht und Völkerrecht (1918); Cathrein, Moralphilo-
sophie (1893); Recht, Naturrecht und positives Recht (1909); v. Hertling,
Recht, Staat und Gesellschaft (1917) u. a. gelehrt wird. Die Kritik des
Positivismus ist begründet; aber dem Positivismus kann man nicht einfach
„das Naturrecht“ in ausschließender Alternative gegenüberstellen.
2 vorzunehmen, i. S. von Beling, Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie
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