Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.Die Rechtssetzung. unter der wir leben, und angesichts der Zufälligkeiten des Er-werbes und Besitzes, die Vermöglichen beitragen zur Unterhaltung derjenigen, die unverschuldet in Not geraten, und zwar durch Be- zahlung einer Steuer in dem näher bestimmten Verhältnis zu ihrem Erwerb und ihrem Besitz. Wenn der Gesetzgeber das sagt, braucht niemand mehr zu fragen, was gerecht, also verbindlich sei in bezug auf die Unterstützung der Bedürftigen; der Private und die rechts- anwendende Behörde brauchen sich nicht mehr zu besinnen darauf, was hier gerecht ist und angeordnet werden könnte. Sie können an Hand anderer Begriffe (als Wertbegriffe) feststellen, was vom Gesetzgeber als gerecht erklärt worden ist; in unserem Beispiel an Hand der Begriffe des Erwerbes oder Vermögens, die wiederum an Hand anderer, bekannter Rechtsbegriffe, wie Eigentum, Forde- rung (Geld), bestimmt werden können; ferner an Hand der mathe- matischen Begriffe der Bruchzahl usw. Erklärt aber der Gesetz- geber, die Armenlasten sollen in billiger Weise auf die Mit- glieder der Gemeinschaft verteilt werden, so entscheidet er zwar, daß es gerecht sei, diese Lasten auf die nicht Bedürftigen zu ver- teilen, aber wie, dieses Werturteil zu fällen, überläßt er dem- jenigen, der das Gesetz anzuwenden hat. Oder wenn bestimmt wird, daß, wer eine fremde Sache, in der Absicht, sie sich anzu- eignen, wegnimmt, mit 1 Monat bis zu 2 Jahren Gefängnis zu bestrafen ist, so entscheidet der Gesetzgeber, wann eine Strafe wegen Diebstahls auszusprechen ist und in welchem Rahmen; hierüber hat der Richter kein Werturteil mehr zu fällen; er hat lediglich festzustellen, daß der Angeklagte jene tatsächlichen Vor- aussetzungen verwirklicht hat; aber der Gesetzgeber überläßt ihm das Werturteil, wie hoch die Strafe innert den angegebenen Grenzen sein soll; welche von den verschiedenen möglichen Strafen im konkreten Fall gerecht ist. Wenn der Gesetzgeber seine Aufgabe vollständig erfüllen will, 1 Es soll damit nicht gesagt sein, es sei gesetzgebungspolitisch das
Richtige, überall diese Vollständigkeit anzustreben und das billige Er- Die Rechtssetzung. unter der wir leben, und angesichts der Zufälligkeiten des Er-werbes und Besitzes, die Vermöglichen beitragen zur Unterhaltung derjenigen, die unverschuldet in Not geraten, und zwar durch Be- zahlung einer Steuer in dem näher bestimmten Verhältnis zu ihrem Erwerb und ihrem Besitz. Wenn der Gesetzgeber das sagt, braucht niemand mehr zu fragen, was gerecht, also verbindlich sei in bezug auf die Unterstützung der Bedürftigen; der Private und die rechts- anwendende Behörde brauchen sich nicht mehr zu besinnen darauf, was hier gerecht ist und angeordnet werden könnte. Sie können an Hand anderer Begriffe (als Wertbegriffe) feststellen, was vom Gesetzgeber als gerecht erklärt worden ist; in unserem Beispiel an Hand der Begriffe des Erwerbes oder Vermögens, die wiederum an Hand anderer, bekannter Rechtsbegriffe, wie Eigentum, Forde- rung (Geld), bestimmt werden können; ferner an Hand der mathe- matischen Begriffe der Bruchzahl usw. Erklärt aber der Gesetz- geber, die Armenlasten sollen in billiger Weise auf die Mit- glieder der Gemeinschaft verteilt werden, so entscheidet er zwar, daß es gerecht sei, diese Lasten auf die nicht Bedürftigen zu ver- teilen, aber wie, dieses Werturteil zu fällen, überläßt er dem- jenigen, der das Gesetz anzuwenden hat. Oder wenn bestimmt wird, daß, wer eine fremde Sache, in der Absicht, sie sich anzu- eignen, wegnimmt, mit 1 Monat bis zu 2 Jahren Gefängnis zu bestrafen ist, so entscheidet der Gesetzgeber, wann eine Strafe wegen Diebstahls auszusprechen ist und in welchem Rahmen; hierüber hat der Richter kein Werturteil mehr zu fällen; er hat lediglich festzustellen, daß der Angeklagte jene tatsächlichen Vor- aussetzungen verwirklicht hat; aber der Gesetzgeber überläßt ihm das Werturteil, wie hoch die Strafe innert den angegebenen Grenzen sein soll; welche von den verschiedenen möglichen Strafen im konkreten Fall gerecht ist. Wenn der Gesetzgeber seine Aufgabe vollständig erfüllen will, 1 Es soll damit nicht gesagt sein, es sei gesetzgebungspolitisch das
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Die Rechtssetzung.
unter der wir leben, und angesichts der Zufälligkeiten des Er-
werbes und Besitzes, die Vermöglichen beitragen zur Unterhaltung
derjenigen, die unverschuldet in Not geraten, und zwar durch Be-
zahlung einer Steuer in dem näher bestimmten Verhältnis zu ihrem
Erwerb und ihrem Besitz. Wenn der Gesetzgeber das sagt, braucht
niemand mehr zu fragen, was gerecht, also verbindlich sei in bezug
auf die Unterstützung der Bedürftigen; der Private und die rechts-
anwendende Behörde brauchen sich nicht mehr zu besinnen darauf,
was hier gerecht ist und angeordnet werden könnte. Sie können
an Hand anderer Begriffe (als Wertbegriffe) feststellen, was vom
Gesetzgeber als gerecht erklärt worden ist; in unserem Beispiel
an Hand der Begriffe des Erwerbes oder Vermögens, die wiederum
an Hand anderer, bekannter Rechtsbegriffe, wie Eigentum, Forde-
rung (Geld), bestimmt werden können; ferner an Hand der mathe-
matischen Begriffe der Bruchzahl usw. Erklärt aber der Gesetz-
geber, die Armenlasten sollen in billiger Weise auf die Mit-
glieder der Gemeinschaft verteilt werden, so entscheidet er zwar,
daß es gerecht sei, diese Lasten auf die nicht Bedürftigen zu ver-
teilen, aber wie, dieses Werturteil zu fällen, überläßt er dem-
jenigen, der das Gesetz anzuwenden hat. Oder wenn bestimmt
wird, daß, wer eine fremde Sache, in der Absicht, sie sich anzu-
eignen, wegnimmt, mit 1 Monat bis zu 2 Jahren Gefängnis zu
bestrafen ist, so entscheidet der Gesetzgeber, wann eine Strafe
wegen Diebstahls auszusprechen ist und in welchem Rahmen;
hierüber hat der Richter kein Werturteil mehr zu fällen; er hat
lediglich festzustellen, daß der Angeklagte jene tatsächlichen Vor-
aussetzungen verwirklicht hat; aber der Gesetzgeber überläßt ihm
das Werturteil, wie hoch die Strafe innert den angegebenen Grenzen
sein soll; welche von den verschiedenen möglichen Strafen im
konkreten Fall gerecht ist.
Wenn der Gesetzgeber seine Aufgabe vollständig erfüllen will,
muß er alle Werturteile selbst aussprechen; denn das ist seine
Aufgabe: das Postulat des Gerechten in einen ohne weitere Be-
wertung anwendbaren Satz überzuführen. Tut er das, wie es sein
Beruf ist 1, so bleibt der rechtsanwendenden Behörde nur noch die
1 Es soll damit nicht gesagt sein, es sei gesetzgebungspolitisch das
Richtige, überall diese Vollständigkeit anzustreben und das billige Er-
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