4. Abschnitt.Ein dürftiger Ersatz freilich für eine große Nation, Ersatz durch die Musik.welche vielleicht vor allen die Gabe gehabt hätte, ihr Höchstes im Spiegel des Drama's objectiv zu schildern und anzu- schauen. Aber dieß sollte ihr auf Jahrhunderte verwehrt bleiben durch feindselige Mächte, an deren Aufkommen sie nur zum Theil Schuld war. Nicht auszurotten war frei- lich das allverbreitete Talent der dramatischen Darstellung und mit der Musik hat Italien vollends Europa zinspflichtig gehalten. Wer in dieser Tonwelt einen Ersatz oder einen verhüllten Ausdruck für das verwehrte Drama erkennen will, mag sich damit nach Gefallen trösten.
Das roman- tische Epos.Was das Drama nicht geleistet hatte, darf man es etwa vom Epos erwarten? Gerade das italienische Helden- gedicht wird scharf darob angeklagt, daß die Haltung und Durchführung der Charactere seine allerschwächste Seite sei.
Andere Vorzüge sind ihm nicht abzustreiten, u. a. der, daß es seit vierthalb Jahrhunderten wirklich gelesen und immer von Neuem abgedruckt wird, während fast die ganze epische Poesie der übrigen Völker zur bloßen literargeschicht- lichen Curiosität geworden ist. Oder liegt es etwa an den Lesern, die etwas anderes verlangen und anerkennen als im Norden? Wenigstens gehört für uns schon eine theil- weise Aneignung des italienischen Gesichtskreises dazu um diesen Dichtungen ihren eigenthümlichen Werth abzugewin- nen, und es giebt sehr ausgezeichnete Menschen, welche erklären nichts damit anfangen zu können. Freilich wer Pulci, Bojardo, Ariosto und Berni auf den reinen sogenannten Gedankengehalt hin analysirt, der muß dabei zu kurz kom- men. Sie sind Künstler der eigensten Art, welche für ein entschieden und vorherrschend künstlerisches Volk dichten.
Die Sagenwelt als Basis.Die mittelalterlichen Sagenkreise hatten nach dem all- mäligen Erlöschen der Ritterdichtung theils in Gestalt von gereimten Umarbeitungen und Sammlungen, theils als Prosaromane weiter gelebt. Letzteres war in Italien während
4. Abſchnitt.Ein dürftiger Erſatz freilich für eine große Nation, Erſatz durch die Muſik.welche vielleicht vor allen die Gabe gehabt hätte, ihr Höchſtes im Spiegel des Drama's objectiv zu ſchildern und anzu- ſchauen. Aber dieß ſollte ihr auf Jahrhunderte verwehrt bleiben durch feindſelige Mächte, an deren Aufkommen ſie nur zum Theil Schuld war. Nicht auszurotten war frei- lich das allverbreitete Talent der dramatiſchen Darſtellung und mit der Muſik hat Italien vollends Europa zinspflichtig gehalten. Wer in dieſer Tonwelt einen Erſatz oder einen verhüllten Ausdruck für das verwehrte Drama erkennen will, mag ſich damit nach Gefallen tröſten.
Das roman- tiſche Epos.Was das Drama nicht geleiſtet hatte, darf man es etwa vom Epos erwarten? Gerade das italieniſche Helden- gedicht wird ſcharf darob angeklagt, daß die Haltung und Durchführung der Charactere ſeine allerſchwächſte Seite ſei.
Andere Vorzüge ſind ihm nicht abzuſtreiten, u. a. der, daß es ſeit vierthalb Jahrhunderten wirklich geleſen und immer von Neuem abgedruckt wird, während faſt die ganze epiſche Poeſie der übrigen Völker zur bloßen literargeſchicht- lichen Curioſität geworden iſt. Oder liegt es etwa an den Leſern, die etwas anderes verlangen und anerkennen als im Norden? Wenigſtens gehört für uns ſchon eine theil- weiſe Aneignung des italieniſchen Geſichtskreiſes dazu um dieſen Dichtungen ihren eigenthümlichen Werth abzugewin- nen, und es giebt ſehr ausgezeichnete Menſchen, welche erklären nichts damit anfangen zu können. Freilich wer Pulci, Bojardo, Arioſto und Berni auf den reinen ſogenannten Gedankengehalt hin analyſirt, der muß dabei zu kurz kom- men. Sie ſind Künſtler der eigenſten Art, welche für ein entſchieden und vorherrſchend künſtleriſches Volk dichten.
Die Sagenwelt als Baſis.Die mittelalterlichen Sagenkreiſe hatten nach dem all- mäligen Erlöſchen der Ritterdichtung theils in Geſtalt von gereimten Umarbeitungen und Sammlungen, theils als Proſaromane weiter gelebt. Letzteres war in Italien während
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Ein dürftiger Erſatz freilich für eine große Nation,
welche vielleicht vor allen die Gabe gehabt hätte, ihr Höchſtes
im Spiegel des Drama's objectiv zu ſchildern und anzu-
ſchauen. Aber dieß ſollte ihr auf Jahrhunderte verwehrt
bleiben durch feindſelige Mächte, an deren Aufkommen ſie
nur zum Theil Schuld war. Nicht auszurotten war frei-
lich das allverbreitete Talent der dramatiſchen Darſtellung
und mit der Muſik hat Italien vollends Europa zinspflichtig
gehalten. Wer in dieſer Tonwelt einen Erſatz oder einen
verhüllten Ausdruck für das verwehrte Drama erkennen
will, mag ſich damit nach Gefallen tröſten.
4. Abſchnitt.
Erſatz durch die
Muſik.
Was das Drama nicht geleiſtet hatte, darf man es
etwa vom Epos erwarten? Gerade das italieniſche Helden-
gedicht wird ſcharf darob angeklagt, daß die Haltung und
Durchführung der Charactere ſeine allerſchwächſte Seite ſei.
Das roman-
tiſche Epos.
Andere Vorzüge ſind ihm nicht abzuſtreiten, u. a. der,
daß es ſeit vierthalb Jahrhunderten wirklich geleſen und
immer von Neuem abgedruckt wird, während faſt die ganze
epiſche Poeſie der übrigen Völker zur bloßen literargeſchicht-
lichen Curioſität geworden iſt. Oder liegt es etwa an den
Leſern, die etwas anderes verlangen und anerkennen als
im Norden? Wenigſtens gehört für uns ſchon eine theil-
weiſe Aneignung des italieniſchen Geſichtskreiſes dazu um
dieſen Dichtungen ihren eigenthümlichen Werth abzugewin-
nen, und es giebt ſehr ausgezeichnete Menſchen, welche
erklären nichts damit anfangen zu können. Freilich wer Pulci,
Bojardo, Arioſto und Berni auf den reinen ſogenannten
Gedankengehalt hin analyſirt, der muß dabei zu kurz kom-
men. Sie ſind Künſtler der eigenſten Art, welche für ein
entſchieden und vorherrſchend künſtleriſches Volk dichten.
Die mittelalterlichen Sagenkreiſe hatten nach dem all-
mäligen Erlöſchen der Ritterdichtung theils in Geſtalt von
gereimten Umarbeitungen und Sammlungen, theils als
Proſaromane weiter gelebt. Letzteres war in Italien während
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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/330>, abgerufen am 24.11.2024.
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