Beyde Künste (§ 48, 49) beschäftigen sich also mit dem kranken Menschen, als einem schlechthin körperlichen (physischen und chemischen), organischen, thierischen und geistigen Wesen: denn alle diese Kräfte müssen zusammen- kommen, um den Begriff des Menschen zu constituiren. Die Arzneikunst aber betrachtet ihn, in sofern vorzüglich seine thierische und geistige Natur hervorleuchtet, ohne übri- gens seiner physischen Kräfte uneingedenk zu seyn. Die Handarzneykunst hingegen behandelt ihn vorzüglich in Hin- sicht auf seine physische und organische Natur, ohne jedoch die thierische und geistige Natur unbeobachtet zu lassen.
§ 52.
Beyde Künste stützen sich im Ganzen genommen auf gleiche Kenntnisse, ihre Gränzen verlaufen sich oft in einan- der, und die eine bedarf immer des Beystandes der andern. Sie machen deshalb eigentlich ein unzertrennliches Ganzes aus *), und nur die Unmöglichkeit, beide Künste durch ein und dasselbe Individuum in gleich hohem Grade der Voll- kommenheit zu realisiren, hat eine Trennung derselben nothwendig gemacht.
*)Diemersbroek de reducenda ad medicinam chirurgia. Ultrajecti 649. fol. Mederer von der Nothwendigkeit, beyde Medicinen zu ver- einen. Freyburg 782. 8.
§ 53.
Da also beyde durch gleichen Zweck geadelt werden: so sieht man, wie unbesonnen die Streitigkeiten über den Vorrang der Einen vor der Andern waren *). Sie stehen auf gleicher Stufe der Vollkommenheit, wenn sie auf dem
einzig
B 3
Kritik der Heilkunſt.
§ 51.
Beyde Kuͤnſte (§ 48, 49) beſchaͤftigen ſich alſo mit dem kranken Menſchen, als einem ſchlechthin koͤrperlichen (phyſiſchen und chemiſchen), organiſchen, thieriſchen und geiſtigen Weſen: denn alle dieſe Kraͤfte muͤſſen zuſammen- kommen, um den Begriff des Menſchen zu conſtituiren. Die Arzneikunſt aber betrachtet ihn, in ſofern vorzuͤglich ſeine thieriſche und geiſtige Natur hervorleuchtet, ohne uͤbri- gens ſeiner phyſiſchen Kraͤfte uneingedenk zu ſeyn. Die Handarzneykunſt hingegen behandelt ihn vorzuͤglich in Hin- ſicht auf ſeine phyſiſche und organiſche Natur, ohne jedoch die thieriſche und geiſtige Natur unbeobachtet zu laſſen.
§ 52.
Beyde Kuͤnſte ſtuͤtzen ſich im Ganzen genommen auf gleiche Kenntniſſe, ihre Graͤnzen verlaufen ſich oft in einan- der, und die eine bedarf immer des Beyſtandes der andern. Sie machen deshalb eigentlich ein unzertrennliches Ganzes aus *), und nur die Unmoͤglichkeit, beide Kuͤnſte durch ein und daſſelbe Individuum in gleich hohem Grade der Voll- kommenheit zu realiſiren, hat eine Trennung derſelben nothwendig gemacht.
*)Diemersbroek de reducenda ad medicinam chirurgia. Ultrajecti 649. fol. Mederer von der Nothwendigkeit, beyde Medicinen zu ver- einen. Freyburg 782. 8.
§ 53.
Da alſo beyde durch gleichen Zweck geadelt werden: ſo ſieht man, wie unbeſonnen die Streitigkeiten uͤber den Vorrang der Einen vor der Andern waren *). Sie ſtehen auf gleicher Stufe der Vollkommenheit, wenn ſie auf dem
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Kritik der Heilkunſt.
§ 51.
Beyde Kuͤnſte (§ 48, 49) beſchaͤftigen ſich alſo mit
dem kranken Menſchen, als einem ſchlechthin koͤrperlichen
(phyſiſchen und chemiſchen), organiſchen, thieriſchen und
geiſtigen Weſen: denn alle dieſe Kraͤfte muͤſſen zuſammen-
kommen, um den Begriff des Menſchen zu conſtituiren.
Die Arzneikunſt aber betrachtet ihn, in ſofern vorzuͤglich
ſeine thieriſche und geiſtige Natur hervorleuchtet, ohne uͤbri-
gens ſeiner phyſiſchen Kraͤfte uneingedenk zu ſeyn. Die
Handarzneykunſt hingegen behandelt ihn vorzuͤglich in Hin-
ſicht auf ſeine phyſiſche und organiſche Natur, ohne jedoch
die thieriſche und geiſtige Natur unbeobachtet zu laſſen.
§ 52.
Beyde Kuͤnſte ſtuͤtzen ſich im Ganzen genommen auf
gleiche Kenntniſſe, ihre Graͤnzen verlaufen ſich oft in einan-
der, und die eine bedarf immer des Beyſtandes der andern.
Sie machen deshalb eigentlich ein unzertrennliches Ganzes
aus *), und nur die Unmoͤglichkeit, beide Kuͤnſte durch ein
und daſſelbe Individuum in gleich hohem Grade der Voll-
kommenheit zu realiſiren, hat eine Trennung derſelben
nothwendig gemacht.
*⁾ Diemersbroek de reducenda ad medicinam chirurgia.
Ultrajecti 649. fol.
Mederer von der Nothwendigkeit, beyde Medicinen zu ver-
einen. Freyburg 782. 8.
§ 53.
Da alſo beyde durch gleichen Zweck geadelt werden:
ſo ſieht man, wie unbeſonnen die Streitigkeiten uͤber den
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auf gleicher Stufe der Vollkommenheit, wenn ſie auf dem
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Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800/39>, abgerufen am 16.07.2024.
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