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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

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Das solte daher auch, wenn wir weise wären,
der beständige Stufengang sein, auf welchem
wir unsere Kinder zur Erkentniß und zur Liebe
des Schöpfers, oder, welches einerlei ist, zur
Religion anführten, daß wir erstlich ihnen die
reinste, innigste, wärmste Liebe gegen uns, ihre
Eltern und Freunde einzuflößen, dan ihr Men-
schengefühl überhaupt zu stärken und zu veredeln
suchten, dan ihren jungen Verstand und ihr of-
nes Herz mit lebendiger Erkentniß und Empfin-
dung der wundervollen Werke Gottes in der schö-
nen Natur anfülten, und nur dan erst, wan ihre
ganze Sele nach und nach dahin gebracht wäre,
daß sie nichts als Menschenliebe und Naturfreude
athmete, sie auf die Urquelle aller dieser Freuden
-- auf Gott selbst -- verwiesen. Das würde
allein der Gang sein, welcher der Natur unserer
Sele angemessen wäre. Aber was thun wir?
Wir kehren die natürliche Ordnung um, wollen
den vergoldeten Knopf auf den Thurm sezen,
bevor wir noch den Grundstein zu dem Thurme
selbst gelegt haben -- ohne Allegorie, wir reden
unsern Kindern von Gott vor, ehe sie noch ein-

mahl

Das ſolte daher auch, wenn wir weiſe waͤren,
der beſtaͤndige Stufengang ſein, auf welchem
wir unſere Kinder zur Erkentniß und zur Liebe
des Schoͤpfers, oder, welches einerlei iſt, zur
Religion anfuͤhrten, daß wir erſtlich ihnen die
reinſte, innigſte, waͤrmſte Liebe gegen uns, ihre
Eltern und Freunde einzufloͤßen, dan ihr Men-
ſchengefuͤhl uͤberhaupt zu ſtaͤrken und zu veredeln
ſuchten, dan ihren jungen Verſtand und ihr of-
nes Herz mit lebendiger Erkentniß und Empfin-
dung der wundervollen Werke Gottes in der ſchoͤ-
nen Natur anfuͤlten, und nur dan erſt, wan ihre
ganze Sele nach und nach dahin gebracht waͤre,
daß ſie nichts als Menſchenliebe und Naturfreude
athmete, ſie auf die Urquelle aller dieſer Freuden
— auf Gott ſelbſt — verwieſen. Das wuͤrde
allein der Gang ſein, welcher der Natur unſerer
Sele angemeſſen waͤre. Aber was thun wir?
Wir kehren die natuͤrliche Ordnung um, wollen
den vergoldeten Knopf auf den Thurm ſezen,
bevor wir noch den Grundſtein zu dem Thurme
ſelbſt gelegt haben — ohne Allegorie, wir reden
unſern Kindern von Gott vor, ehe ſie noch ein-

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[79/0109] Das ſolte daher auch, wenn wir weiſe waͤren, der beſtaͤndige Stufengang ſein, auf welchem wir unſere Kinder zur Erkentniß und zur Liebe des Schoͤpfers, oder, welches einerlei iſt, zur Religion anfuͤhrten, daß wir erſtlich ihnen die reinſte, innigſte, waͤrmſte Liebe gegen uns, ihre Eltern und Freunde einzufloͤßen, dan ihr Men- ſchengefuͤhl uͤberhaupt zu ſtaͤrken und zu veredeln ſuchten, dan ihren jungen Verſtand und ihr of- nes Herz mit lebendiger Erkentniß und Empfin- dung der wundervollen Werke Gottes in der ſchoͤ- nen Natur anfuͤlten, und nur dan erſt, wan ihre ganze Sele nach und nach dahin gebracht waͤre, daß ſie nichts als Menſchenliebe und Naturfreude athmete, ſie auf die Urquelle aller dieſer Freuden — auf Gott ſelbſt — verwieſen. Das wuͤrde allein der Gang ſein, welcher der Natur unſerer Sele angemeſſen waͤre. Aber was thun wir? Wir kehren die natuͤrliche Ordnung um, wollen den vergoldeten Knopf auf den Thurm ſezen, bevor wir noch den Grundſtein zu dem Thurme ſelbſt gelegt haben — ohne Allegorie, wir reden unſern Kindern von Gott vor, ehe ſie noch ein- mahl

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/109>, abgerufen am 17.05.2024.