von unsern heutigen Antoninen sich ein einziger dieses Verdienst um die Menschheit erwerben wer- de? Hoffe, mein Sohn, so viel du kanst, und vernim jezt die zweite Folge unserer Beobachtung, welche für den Beurtheiler der Menschen gehört:
Sind Verwöhnung, Noth und Bedürfniß wirklich die gewöhnlichsten Triebfedern menschlicher Handlungen; und ist es wirklich eine so seltne Er- scheinung, daß jemand aus freier Wahl und nach eigenen Grundsäzen handle: o so laßt uns doch nicht auf Rechnung der schuldlosen menschlichen Na- tur sezen, was die dermalige Lage der Mensch- heit bei der gegenwärtigen Weltverfassung allein verschuldet! Wenn der Bach, der vorher stil und klar zwischen beblümten Ufern in seinem reinen Standbette dahinfloß, durch Abdämmung gezwun- gen wird, sich in eine weite, leimigte, allen Winden offenstehende Fläche zu ergießen, um etwa hier einen See zu Lustfahrten für den Herrn der Ge- gend zu bilden, dort die feste Burg eines Tiran- nen unzugänglich zu machen: ist es seine Schuld, wenn er hier einen Garten, die Freude seines Be- sizers, dort ein Saatfeld, die Hofnung des Land-
mans,
von unſern heutigen Antoninen ſich ein einziger dieſes Verdienſt um die Menſchheit erwerben wer- de? Hoffe, mein Sohn, ſo viel du kanſt, und vernim jezt die zweite Folge unſerer Beobachtung, welche fuͤr den Beurtheiler der Menſchen gehoͤrt:
Sind Verwoͤhnung, Noth und Beduͤrfniß wirklich die gewoͤhnlichſten Triebfedern menſchlicher Handlungen; und iſt es wirklich eine ſo ſeltne Er- ſcheinung, daß jemand aus freier Wahl und nach eigenen Grundſaͤzen handle: o ſo laßt uns doch nicht auf Rechnung der ſchuldloſen menſchlichen Na- tur ſezen, was die dermalige Lage der Menſch- heit bei der gegenwaͤrtigen Weltverfaſſung allein verſchuldet! Wenn der Bach, der vorher ſtil und klar zwiſchen bebluͤmten Ufern in ſeinem reinen Standbette dahinfloß, durch Abdaͤmmung gezwun- gen wird, ſich in eine weite, leimigte, allen Winden offenſtehende Flaͤche zu ergießen, um etwa hier einen See zu Luſtfahrten fuͤr den Herrn der Ge- gend zu bilden, dort die feſte Burg eines Tiran- nen unzugaͤnglich zu machen: iſt es ſeine Schuld, wenn er hier einen Garten, die Freude ſeines Be- ſizers, dort ein Saatfeld, die Hofnung des Land-
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von unſern heutigen Antoninen ſich ein einziger
dieſes Verdienſt um die Menſchheit erwerben wer-
de? Hoffe, mein Sohn, ſo viel du kanſt, und
vernim jezt die zweite Folge unſerer Beobachtung,
welche fuͤr den Beurtheiler der Menſchen gehoͤrt:
Sind Verwoͤhnung, Noth und Beduͤrfniß
wirklich die gewoͤhnlichſten Triebfedern menſchlicher
Handlungen; und iſt es wirklich eine ſo ſeltne Er-
ſcheinung, daß jemand aus freier Wahl und nach
eigenen Grundſaͤzen handle: o ſo laßt uns doch
nicht auf Rechnung der ſchuldloſen menſchlichen Na-
tur ſezen, was die dermalige Lage der Menſch-
heit bei der gegenwaͤrtigen Weltverfaſſung allein
verſchuldet! Wenn der Bach, der vorher ſtil und
klar zwiſchen bebluͤmten Ufern in ſeinem reinen
Standbette dahinfloß, durch Abdaͤmmung gezwun-
gen wird, ſich in eine weite, leimigte, allen Winden
offenſtehende Flaͤche zu ergießen, um etwa hier
einen See zu Luſtfahrten fuͤr den Herrn der Ge-
gend zu bilden, dort die feſte Burg eines Tiran-
nen unzugaͤnglich zu machen: iſt es ſeine Schuld,
wenn er hier einen Garten, die Freude ſeines Be-
ſizers, dort ein Saatfeld, die Hofnung des Land-
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/128>, abgerufen am 17.05.2024.
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