die phisiognomische wie die Bücherschrift nicht selten doppelsinnig.
Achte aber nicht sowohl auf die großen und öffentlichen Handlungen der Menschen, als vielmehr auf die kleinen, auf die häus- lichen, auf diejenigen, welche man gleich- sam im Vorbeigehen verrichtet, ohne eine überdachte Absicht dabei zu haben. Diese, nicht jene, sind die ächten Probiersteine des Karak- ters; denn bei jenen zeigt man sich, wie man sich zeigen wil, bei diesen wie man ist; bei jenen ist die Sele in Galla, bei diesen in Schlafrok und Pantoffeln. Begleite also den glänzenden Schau- spieler, wenn du den Menschen in ihm kennen lernen wilst, bis hinter die Kulissen; habe acht, wie er hier seine Mienen, seine Blikke, seine Sprache, sein ganzes Wesen verändert; siehe ihm ins Gesicht, wenn er die Schminke abgewa- schen, die gemahlten Augbraunen ausgerieben, die schimmernde Theaterkleidung ausgezogen hat; laß kein Wort von dem, was er nunmehr als Mensch, nicht mehr als Schauspieler, zu seinen gleichfals abgetretenen Mitspielern, zu den thea-
tralischen
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die phiſiognomiſche wie die Buͤcherſchrift nicht ſelten doppelſinnig.
Achte aber nicht ſowohl auf die großen und oͤffentlichen Handlungen der Menſchen, als vielmehr auf die kleinen, auf die haͤus- lichen, auf diejenigen, welche man gleich- ſam im Vorbeigehen verrichtet, ohne eine uͤberdachte Abſicht dabei zu haben. Dieſe, nicht jene, ſind die aͤchten Probierſteine des Karak- ters; denn bei jenen zeigt man ſich, wie man ſich zeigen wil, bei dieſen wie man iſt; bei jenen iſt die Sele in Galla, bei dieſen in Schlafrok und Pantoffeln. Begleite alſo den glaͤnzenden Schau- ſpieler, wenn du den Menſchen in ihm kennen lernen wilſt, bis hinter die Kuliſſen; habe acht, wie er hier ſeine Mienen, ſeine Blikke, ſeine Sprache, ſein ganzes Weſen veraͤndert; ſiehe ihm ins Geſicht, wenn er die Schminke abgewa- ſchen, die gemahlten Augbraunen ausgerieben, die ſchimmernde Theaterkleidung ausgezogen hat; laß kein Wort von dem, was er nunmehr als Menſch, nicht mehr als Schauſpieler, zu ſeinen gleichfals abgetretenen Mitſpielern, zu den thea-
traliſchen
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die phiſiognomiſche wie die Buͤcherſchrift nicht
ſelten doppelſinnig.
Achte aber nicht ſowohl auf die großen
und oͤffentlichen Handlungen der Menſchen,
als vielmehr auf die kleinen, auf die haͤus-
lichen, auf diejenigen, welche man gleich-
ſam im Vorbeigehen verrichtet, ohne eine
uͤberdachte Abſicht dabei zu haben. Dieſe,
nicht jene, ſind die aͤchten Probierſteine des Karak-
ters; denn bei jenen zeigt man ſich, wie man ſich
zeigen wil, bei dieſen wie man iſt; bei jenen iſt
die Sele in Galla, bei dieſen in Schlafrok und
Pantoffeln. Begleite alſo den glaͤnzenden Schau-
ſpieler, wenn du den Menſchen in ihm kennen
lernen wilſt, bis hinter die Kuliſſen; habe acht,
wie er hier ſeine Mienen, ſeine Blikke, ſeine
Sprache, ſein ganzes Weſen veraͤndert; ſiehe
ihm ins Geſicht, wenn er die Schminke abgewa-
ſchen, die gemahlten Augbraunen ausgerieben,
die ſchimmernde Theaterkleidung ausgezogen hat;
laß kein Wort von dem, was er nunmehr als
Menſch, nicht mehr als Schauſpieler, zu ſeinen
gleichfals abgetretenen Mitſpielern, zu den thea-
traliſchen
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/177>, abgerufen am 17.05.2024.
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