Bemühe dich aber nicht blos, gute, rechtschaf- fene und edle Thaten aus ihrer Dunkelheit her- vorzuziehn; sondern mache es dir auch zu einem angelegentlichen Geschäft, an jedem verwahr- loseten menschlichen Karakter die ihm noch übrige gute Seite, bei jeder schlechten That, die dir zu Ohren komt, diejenigen Umstände aufzusuchen, welche dem Fehlenden zu ei- niger Entschuldigung gereichen können. Denn keines Menschen Sele ist so durchaus ver- derbt, daß von ihrer ursprünglich reinen und guten Natur nicht wenigstens noch einige Ruinen zu entdekken wären; und keine Handlung ist so schlecht, daß man in der ganzen Lage des Han- delnden nicht noch einen oder den andern ent- schuldigenden Umstand finden solte, der unsern Tadel mildern muß. Bestrebe dich, jene Rui- nen auszugraben, dieser entschuldigenden Umstände so viele zu entdekken, als es dir nur immer mög- lich sein wird: und du wirst dir einen Schaz von ächter Menschenkentniß und von guten Ge- sinnungen erwerben, den du gegen alle Alterthü- mer Italiens nicht wirst vertauschen wollen.
Ich
Bemuͤhe dich aber nicht blos, gute, rechtſchaf- fene und edle Thaten aus ihrer Dunkelheit her- vorzuziehn; ſondern mache es dir auch zu einem angelegentlichen Geſchaͤft, an jedem verwahr- loſeten menſchlichen Karakter die ihm noch uͤbrige gute Seite, bei jeder ſchlechten That, die dir zu Ohren komt, diejenigen Umſtaͤnde aufzuſuchen, welche dem Fehlenden zu ei- niger Entſchuldigung gereichen koͤnnen. Denn keines Menſchen Sele iſt ſo durchaus ver- derbt, daß von ihrer urſpruͤnglich reinen und guten Natur nicht wenigſtens noch einige Ruinen zu entdekken waͤren; und keine Handlung iſt ſo ſchlecht, daß man in der ganzen Lage des Han- delnden nicht noch einen oder den andern ent- ſchuldigenden Umſtand finden ſolte, der unſern Tadel mildern muß. Beſtrebe dich, jene Rui- nen auszugraben, dieſer entſchuldigenden Umſtaͤnde ſo viele zu entdekken, als es dir nur immer moͤg- lich ſein wird: und du wirſt dir einen Schaz von aͤchter Menſchenkentniß und von guten Ge- ſinnungen erwerben, den du gegen alle Alterthuͤ- mer Italiens nicht wirſt vertauſchen wollen.
Ich
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Bemuͤhe dich aber nicht blos, gute, rechtſchaf-
fene und edle Thaten aus ihrer Dunkelheit her-
vorzuziehn; ſondern mache es dir auch zu einem
angelegentlichen Geſchaͤft, an jedem verwahr-
loſeten menſchlichen Karakter die ihm noch
uͤbrige gute Seite, bei jeder ſchlechten That,
die dir zu Ohren komt, diejenigen Umſtaͤnde
aufzuſuchen, welche dem Fehlenden zu ei-
niger Entſchuldigung gereichen koͤnnen.
Denn keines Menſchen Sele iſt ſo durchaus ver-
derbt, daß von ihrer urſpruͤnglich reinen und
guten Natur nicht wenigſtens noch einige Ruinen
zu entdekken waͤren; und keine Handlung iſt ſo
ſchlecht, daß man in der ganzen Lage des Han-
delnden nicht noch einen oder den andern ent-
ſchuldigenden Umſtand finden ſolte, der unſern
Tadel mildern muß. Beſtrebe dich, jene Rui-
nen auszugraben, dieſer entſchuldigenden Umſtaͤnde
ſo viele zu entdekken, als es dir nur immer moͤg-
lich ſein wird: und du wirſt dir einen Schaz
von aͤchter Menſchenkentniß und von guten Ge-
ſinnungen erwerben, den du gegen alle Alterthuͤ-
mer Italiens nicht wirſt vertauſchen wollen.
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/185>, abgerufen am 25.11.2024.
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