Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich habe Leute gekant, welche von der aller-
wärmsten und thätigsten Mildthätigkeit, Men-
schenliebe und Dienstfertigkeit beseelt zu sein das
Ansehn hatten. Sie schienen gar keinen andern
Beruf zu haben, als Unglükliche und Nothlei-
dende aufzusuchen, um ihnen mit Rath, Trost
und Hülfe beizuspringen. Jedem Armen stand
ihr Beutel offen, jedem Verunglükten ihr Haus,
jedem Bekümmerten ihr Herz. Sie weinten mit
den Weinenden, und der Anblik fremder Schmer-
zen schien peinlicher für sie zu sein, als wenn sie
selbst der Leidende gewesen wären. Ihre from-
men Liebeswerke gaben täglich neuen Stof zum
Gespräch und zur Bewunderung. Bald hatten
sie ein Kind aus dem Wasser, einen Kranken oder
Schwachen aus dem Feuer gerettet; bald, unter
dem ausdrüklichen Verbote, ihren Nahmen zu
nennen, den Altar neubekleidet, oder irgend eine
Kostbarkeit zur Zierde desselben geschenkt; bald
hatten sie zum Bau einer Schule oder eines Ar-
menhauses mit einer Milde beigetragen, welche
alle andere ihres Standes und ihres Vermögens
weit hinter sich ließ. Mit einem Worte, sie

schienen
N 4

Ich habe Leute gekant, welche von der aller-
waͤrmſten und thaͤtigſten Mildthaͤtigkeit, Men-
ſchenliebe und Dienſtfertigkeit beſeelt zu ſein das
Anſehn hatten. Sie ſchienen gar keinen andern
Beruf zu haben, als Ungluͤkliche und Nothlei-
dende aufzuſuchen, um ihnen mit Rath, Troſt
und Huͤlfe beizuſpringen. Jedem Armen ſtand
ihr Beutel offen, jedem Verungluͤkten ihr Haus,
jedem Bekuͤmmerten ihr Herz. Sie weinten mit
den Weinenden, und der Anblik fremder Schmer-
zen ſchien peinlicher fuͤr ſie zu ſein, als wenn ſie
ſelbſt der Leidende geweſen waͤren. Ihre from-
men Liebeswerke gaben taͤglich neuen Stof zum
Geſpraͤch und zur Bewunderung. Bald hatten
ſie ein Kind aus dem Waſſer, einen Kranken oder
Schwachen aus dem Feuer gerettet; bald, unter
dem ausdruͤklichen Verbote, ihren Nahmen zu
nennen, den Altar neubekleidet, oder irgend eine
Koſtbarkeit zur Zierde deſſelben geſchenkt; bald
hatten ſie zum Bau einer Schule oder eines Ar-
menhauſes mit einer Milde beigetragen, welche
alle andere ihres Standes und ihres Vermoͤgens
weit hinter ſich ließ. Mit einem Worte, ſie

ſchienen
N 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0229" n="199"/>
        <p>Ich habe Leute gekant, welche von der aller-<lb/>
wa&#x0364;rm&#x017F;ten und tha&#x0364;tig&#x017F;ten Mildtha&#x0364;tigkeit, Men-<lb/>
&#x017F;chenliebe und Dien&#x017F;tfertigkeit be&#x017F;eelt zu &#x017F;ein das<lb/>
An&#x017F;ehn hatten. Sie &#x017F;chienen gar keinen andern<lb/>
Beruf zu haben, als Unglu&#x0364;kliche und Nothlei-<lb/>
dende aufzu&#x017F;uchen, um ihnen mit Rath, Tro&#x017F;t<lb/>
und Hu&#x0364;lfe beizu&#x017F;pringen. Jedem Armen &#x017F;tand<lb/>
ihr Beutel offen, jedem Verunglu&#x0364;kten ihr Haus,<lb/>
jedem Beku&#x0364;mmerten ihr Herz. Sie weinten mit<lb/>
den Weinenden, und der Anblik fremder Schmer-<lb/>
zen &#x017F;chien peinlicher fu&#x0364;r &#x017F;ie zu &#x017F;ein, als wenn &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t der Leidende gewe&#x017F;en wa&#x0364;ren. Ihre from-<lb/>
men Liebeswerke gaben ta&#x0364;glich neuen Stof zum<lb/>
Ge&#x017F;pra&#x0364;ch und zur Bewunderung. Bald hatten<lb/>
&#x017F;ie ein Kind aus dem Wa&#x017F;&#x017F;er, einen Kranken oder<lb/>
Schwachen aus dem Feuer gerettet; bald, unter<lb/>
dem ausdru&#x0364;klichen Verbote, ihren Nahmen zu<lb/>
nennen, den Altar neubekleidet, oder irgend eine<lb/>
Ko&#x017F;tbarkeit zur Zierde de&#x017F;&#x017F;elben ge&#x017F;chenkt; bald<lb/>
hatten &#x017F;ie zum Bau einer Schule oder eines Ar-<lb/>
menhau&#x017F;es mit einer Milde beigetragen, welche<lb/>
alle andere ihres Standes und ihres Vermo&#x0364;gens<lb/>
weit hinter &#x017F;ich ließ. Mit einem Worte, &#x017F;ie<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N 4</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chienen</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[199/0229] Ich habe Leute gekant, welche von der aller- waͤrmſten und thaͤtigſten Mildthaͤtigkeit, Men- ſchenliebe und Dienſtfertigkeit beſeelt zu ſein das Anſehn hatten. Sie ſchienen gar keinen andern Beruf zu haben, als Ungluͤkliche und Nothlei- dende aufzuſuchen, um ihnen mit Rath, Troſt und Huͤlfe beizuſpringen. Jedem Armen ſtand ihr Beutel offen, jedem Verungluͤkten ihr Haus, jedem Bekuͤmmerten ihr Herz. Sie weinten mit den Weinenden, und der Anblik fremder Schmer- zen ſchien peinlicher fuͤr ſie zu ſein, als wenn ſie ſelbſt der Leidende geweſen waͤren. Ihre from- men Liebeswerke gaben taͤglich neuen Stof zum Geſpraͤch und zur Bewunderung. Bald hatten ſie ein Kind aus dem Waſſer, einen Kranken oder Schwachen aus dem Feuer gerettet; bald, unter dem ausdruͤklichen Verbote, ihren Nahmen zu nennen, den Altar neubekleidet, oder irgend eine Koſtbarkeit zur Zierde deſſelben geſchenkt; bald hatten ſie zum Bau einer Schule oder eines Ar- menhauſes mit einer Milde beigetragen, welche alle andere ihres Standes und ihres Vermoͤgens weit hinter ſich ließ. Mit einem Worte, ſie ſchienen N 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/229
Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/229>, abgerufen am 15.05.2024.