Ich habe Leute gekant, welche von der aller- wärmsten und thätigsten Mildthätigkeit, Men- schenliebe und Dienstfertigkeit beseelt zu sein das Ansehn hatten. Sie schienen gar keinen andern Beruf zu haben, als Unglükliche und Nothlei- dende aufzusuchen, um ihnen mit Rath, Trost und Hülfe beizuspringen. Jedem Armen stand ihr Beutel offen, jedem Verunglükten ihr Haus, jedem Bekümmerten ihr Herz. Sie weinten mit den Weinenden, und der Anblik fremder Schmer- zen schien peinlicher für sie zu sein, als wenn sie selbst der Leidende gewesen wären. Ihre from- men Liebeswerke gaben täglich neuen Stof zum Gespräch und zur Bewunderung. Bald hatten sie ein Kind aus dem Wasser, einen Kranken oder Schwachen aus dem Feuer gerettet; bald, unter dem ausdrüklichen Verbote, ihren Nahmen zu nennen, den Altar neubekleidet, oder irgend eine Kostbarkeit zur Zierde desselben geschenkt; bald hatten sie zum Bau einer Schule oder eines Ar- menhauses mit einer Milde beigetragen, welche alle andere ihres Standes und ihres Vermögens weit hinter sich ließ. Mit einem Worte, sie
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Ich habe Leute gekant, welche von der aller- waͤrmſten und thaͤtigſten Mildthaͤtigkeit, Men- ſchenliebe und Dienſtfertigkeit beſeelt zu ſein das Anſehn hatten. Sie ſchienen gar keinen andern Beruf zu haben, als Ungluͤkliche und Nothlei- dende aufzuſuchen, um ihnen mit Rath, Troſt und Huͤlfe beizuſpringen. Jedem Armen ſtand ihr Beutel offen, jedem Verungluͤkten ihr Haus, jedem Bekuͤmmerten ihr Herz. Sie weinten mit den Weinenden, und der Anblik fremder Schmer- zen ſchien peinlicher fuͤr ſie zu ſein, als wenn ſie ſelbſt der Leidende geweſen waͤren. Ihre from- men Liebeswerke gaben taͤglich neuen Stof zum Geſpraͤch und zur Bewunderung. Bald hatten ſie ein Kind aus dem Waſſer, einen Kranken oder Schwachen aus dem Feuer gerettet; bald, unter dem ausdruͤklichen Verbote, ihren Nahmen zu nennen, den Altar neubekleidet, oder irgend eine Koſtbarkeit zur Zierde deſſelben geſchenkt; bald hatten ſie zum Bau einer Schule oder eines Ar- menhauſes mit einer Milde beigetragen, welche alle andere ihres Standes und ihres Vermoͤgens weit hinter ſich ließ. Mit einem Worte, ſie
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Ich habe Leute gekant, welche von der aller-
waͤrmſten und thaͤtigſten Mildthaͤtigkeit, Men-
ſchenliebe und Dienſtfertigkeit beſeelt zu ſein das
Anſehn hatten. Sie ſchienen gar keinen andern
Beruf zu haben, als Ungluͤkliche und Nothlei-
dende aufzuſuchen, um ihnen mit Rath, Troſt
und Huͤlfe beizuſpringen. Jedem Armen ſtand
ihr Beutel offen, jedem Verungluͤkten ihr Haus,
jedem Bekuͤmmerten ihr Herz. Sie weinten mit
den Weinenden, und der Anblik fremder Schmer-
zen ſchien peinlicher fuͤr ſie zu ſein, als wenn ſie
ſelbſt der Leidende geweſen waͤren. Ihre from-
men Liebeswerke gaben taͤglich neuen Stof zum
Geſpraͤch und zur Bewunderung. Bald hatten
ſie ein Kind aus dem Waſſer, einen Kranken oder
Schwachen aus dem Feuer gerettet; bald, unter
dem ausdruͤklichen Verbote, ihren Nahmen zu
nennen, den Altar neubekleidet, oder irgend eine
Koſtbarkeit zur Zierde deſſelben geſchenkt; bald
hatten ſie zum Bau einer Schule oder eines Ar-
menhauſes mit einer Milde beigetragen, welche
alle andere ihres Standes und ihres Vermoͤgens
weit hinter ſich ließ. Mit einem Worte, ſie
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/229>, abgerufen am 23.11.2024.
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