Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

schienen nichts als Menschenliebe, Mitleid, Wohl-
thätigkeit und Gemeingeist zu athmen.

Nicht wahr, mein Sohn, das müssen lie-
benswürdige Menschen sein? -- So scheint es
wenigstens. Indes, da Mitleid gegen Unglük-
liche, Wohlthätigkeit gegen Nothleidende, Frei-
gebigkeit gegen öffentliche Anstalten, nicht die
einzigen Tugenden sind, welche den Karakter
des rechtschaffenen Mannes bestimmen: so laß
uns nun auch das Betragen dieser angeblichen
Menschenfreunde in Ansehung aller übrigen
Pflichten des Menschen und des Bürgers in Er-
wägung ziehen.

Eben diese Leute -- kaust du es glauben?
-- erlaubten sich oft die gröbsten Ungerechtig-
keiten und Uebervortheilungen im Handel und
Wandel; machten sich oft kein Gewissen daraus,
den sauern Schweiß des darbenden Handwerkers
zu verschwenden, oder dem, der ihnen geliehen
hatte, sein rechtmäßiges Eigenthum vorzuent-
halten; waren unordentlich in ihren Geschäften,
nachlässig in der Erfüllung ihrer eigentlichen Be-
rufspflichten; ließen ihr eigenes Hauswesen in

Verwir-

ſchienen nichts als Menſchenliebe, Mitleid, Wohl-
thaͤtigkeit und Gemeingeiſt zu athmen.

Nicht wahr, mein Sohn, das muͤſſen lie-
benswuͤrdige Menſchen ſein? — So ſcheint es
wenigſtens. Indes, da Mitleid gegen Ungluͤk-
liche, Wohlthaͤtigkeit gegen Nothleidende, Frei-
gebigkeit gegen oͤffentliche Anſtalten, nicht die
einzigen Tugenden ſind, welche den Karakter
des rechtſchaffenen Mannes beſtimmen: ſo laß
uns nun auch das Betragen dieſer angeblichen
Menſchenfreunde in Anſehung aller uͤbrigen
Pflichten des Menſchen und des Buͤrgers in Er-
waͤgung ziehen.

Eben dieſe Leute — kauſt du es glauben?
— erlaubten ſich oft die groͤbſten Ungerechtig-
keiten und Uebervortheilungen im Handel und
Wandel; machten ſich oft kein Gewiſſen daraus,
den ſauern Schweiß des darbenden Handwerkers
zu verſchwenden, oder dem, der ihnen geliehen
hatte, ſein rechtmaͤßiges Eigenthum vorzuent-
halten; waren unordentlich in ihren Geſchaͤften,
nachlaͤſſig in der Erfuͤllung ihrer eigentlichen Be-
rufspflichten; ließen ihr eigenes Hausweſen in

Verwir-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0230" n="200"/>
&#x017F;chienen nichts als Men&#x017F;chenliebe, Mitleid, Wohl-<lb/>
tha&#x0364;tigkeit und Gemeingei&#x017F;t zu athmen.</p><lb/>
        <p>Nicht wahr, mein Sohn, das mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en lie-<lb/>
benswu&#x0364;rdige Men&#x017F;chen &#x017F;ein? &#x2014; So &#x017F;cheint es<lb/>
wenig&#x017F;tens. Indes, da Mitleid gegen Unglu&#x0364;k-<lb/>
liche, Wohltha&#x0364;tigkeit gegen Nothleidende, Frei-<lb/>
gebigkeit gegen o&#x0364;ffentliche An&#x017F;talten, nicht die<lb/>
einzigen Tugenden &#x017F;ind, welche den Karakter<lb/>
des recht&#x017F;chaffenen Mannes be&#x017F;timmen: &#x017F;o laß<lb/>
uns nun auch das Betragen die&#x017F;er angeblichen<lb/>
Men&#x017F;chenfreunde in An&#x017F;ehung aller u&#x0364;brigen<lb/>
Pflichten des Men&#x017F;chen und des Bu&#x0364;rgers in Er-<lb/>
wa&#x0364;gung ziehen.</p><lb/>
        <p>Eben die&#x017F;e Leute &#x2014; kau&#x017F;t du es glauben?<lb/>
&#x2014; erlaubten &#x017F;ich oft die gro&#x0364;b&#x017F;ten Ungerechtig-<lb/>
keiten und Uebervortheilungen im Handel und<lb/>
Wandel; machten &#x017F;ich oft kein Gewi&#x017F;&#x017F;en daraus,<lb/>
den &#x017F;auern Schweiß des darbenden Handwerkers<lb/>
zu ver&#x017F;chwenden, oder dem, der ihnen geliehen<lb/>
hatte, &#x017F;ein rechtma&#x0364;ßiges Eigenthum vorzuent-<lb/>
halten; waren unordentlich in ihren Ge&#x017F;cha&#x0364;ften,<lb/>
nachla&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig in der Erfu&#x0364;llung ihrer eigentlichen Be-<lb/>
rufspflichten; ließen ihr eigenes Hauswe&#x017F;en in<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Verwir-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0230] ſchienen nichts als Menſchenliebe, Mitleid, Wohl- thaͤtigkeit und Gemeingeiſt zu athmen. Nicht wahr, mein Sohn, das muͤſſen lie- benswuͤrdige Menſchen ſein? — So ſcheint es wenigſtens. Indes, da Mitleid gegen Ungluͤk- liche, Wohlthaͤtigkeit gegen Nothleidende, Frei- gebigkeit gegen oͤffentliche Anſtalten, nicht die einzigen Tugenden ſind, welche den Karakter des rechtſchaffenen Mannes beſtimmen: ſo laß uns nun auch das Betragen dieſer angeblichen Menſchenfreunde in Anſehung aller uͤbrigen Pflichten des Menſchen und des Buͤrgers in Er- waͤgung ziehen. Eben dieſe Leute — kauſt du es glauben? — erlaubten ſich oft die groͤbſten Ungerechtig- keiten und Uebervortheilungen im Handel und Wandel; machten ſich oft kein Gewiſſen daraus, den ſauern Schweiß des darbenden Handwerkers zu verſchwenden, oder dem, der ihnen geliehen hatte, ſein rechtmaͤßiges Eigenthum vorzuent- halten; waren unordentlich in ihren Geſchaͤften, nachlaͤſſig in der Erfuͤllung ihrer eigentlichen Be- rufspflichten; ließen ihr eigenes Hausweſen in Verwir-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/230
Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/230>, abgerufen am 23.11.2024.