Erfahrung gebracht hat? Keinesweges! Man schließt nur: ein Frauenzimmer, das da weiß, daß man von dieser oder jener an sich selbst un- schuldigen Freiheit Anlaß zum Verdachte nehmen werde, und sich diese Freiheit dennoch erlaubt, muß sich wahrscheinlicher Weise in einem leiden- schaftlichen Zustande befinden. Und ich wil be- haupten, daß dieser Schluß in den meisten Fällen richtig sei. Denn zu sagen, daß ein solches Frauenzimmer, vielleicht aus einer besondern Stärke der Sele, sich über den äusserlichen Kling- klang der Ehrbarkeit und über das Gerede der Leute wegzusezen wage, oder aus gänzlicher Rei- nigkeit des Herzens sich ganz und gar nicht ein, kommen lasse, daß sie in Verdacht gerathen könne, heißt, die zarte Empfindlichkeit dieses Ge- schlechts gegen Lob und Tadel, heißt den eigenen immer regen Argwohn desselben in Dingen dieser Art, schlecht kennen. Nein, mein Sohn, ein
Frauen-
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Erfahrung gebracht hat? Keinesweges! Man ſchließt nur: ein Frauenzimmer, das da weiß, daß man von dieſer oder jener an ſich ſelbſt un- ſchuldigen Freiheit Anlaß zum Verdachte nehmen werde, und ſich dieſe Freiheit dennoch erlaubt, muß ſich wahrſcheinlicher Weiſe in einem leiden- ſchaftlichen Zuſtande befinden. Und ich wil be- haupten, daß dieſer Schluß in den meiſten Faͤllen richtig ſei. Denn zu ſagen, daß ein ſolches Frauenzimmer, vielleicht aus einer beſondern Staͤrke der Sele, ſich uͤber den aͤuſſerlichen Kling- klang der Ehrbarkeit und uͤber das Gerede der Leute wegzuſezen wage, oder aus gaͤnzlicher Rei- nigkeit des Herzens ſich ganz und gar nicht ein, kommen laſſe, daß ſie in Verdacht gerathen koͤnne, heißt, die zarte Empfindlichkeit dieſes Ge- ſchlechts gegen Lob und Tadel, heißt den eigenen immer regen Argwohn deſſelben in Dingen dieſer Art, ſchlecht kennen. Nein, mein Sohn, ein
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Erfahrung gebracht hat? Keinesweges! Man
ſchließt nur: ein Frauenzimmer, das da weiß,
daß man von dieſer oder jener an ſich ſelbſt un-
ſchuldigen Freiheit Anlaß zum Verdachte nehmen
werde, und ſich dieſe Freiheit dennoch erlaubt,
muß ſich wahrſcheinlicher Weiſe in einem leiden-
ſchaftlichen Zuſtande befinden. Und ich wil be-
haupten, daß dieſer Schluß in den meiſten Faͤllen
richtig ſei. Denn zu ſagen, daß ein ſolches
Frauenzimmer, vielleicht aus einer beſondern
Staͤrke der Sele, ſich uͤber den aͤuſſerlichen Kling-
klang der Ehrbarkeit und uͤber das Gerede der
Leute wegzuſezen wage, oder aus gaͤnzlicher Rei-
nigkeit des Herzens ſich ganz und gar nicht ein,
kommen laſſe, daß ſie in Verdacht gerathen
koͤnne, heißt, die zarte Empfindlichkeit dieſes Ge-
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/287>, abgerufen am 22.11.2024.
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