und unschuldigste Liebe für die Sele eines Jünglings, dem Alter und Glüksumstände noch nicht vergönnen, die ehelige Gefähr- tin seines Lebens zu wählen, ein verderb- liches Gift sei, welches sie entnervt, wel- ches jeden Keim des Guten in ihr erstikt, sie unlustig und unfähig zu jeder edlen Anstrengung und zur Erwerbung rühmli- cher Verdienste macht. Oder meinst du etwa, daß mein Alter und meine Grundsäze mich zu einer ungebührlichen Strenge in der Sittenlehre ver- leiten: so höre das Zeugniß eines Mannes, von dem wohl keiner eine Uebertreibung in Urtheilen dieser Art erwarten wird. "Sogar die unschul- digste Liebe, diejenige, welche in jungen enthu- siastischen Selen so schön mit der Tugend zusam- men zu stimmen scheint, führt ein schleichendes Gift bei sich, dessen Wirkungen um desto gefähr- licher sind, weil es langsam und durch unmerk-
liche
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und unſchuldigſte Liebe fuͤr die Sele eines Juͤnglings, dem Alter und Gluͤksumſtaͤnde noch nicht vergoͤnnen, die ehelige Gefaͤhr- tin ſeines Lebens zu waͤhlen, ein verderb- liches Gift ſei, welches ſie entnervt, wel- ches jeden Keim des Guten in ihr erſtikt, ſie unluſtig und unfaͤhig zu jeder edlen Anſtrengung und zur Erwerbung ruͤhmli- cher Verdienſte macht. Oder meinſt du etwa, daß mein Alter und meine Grundſaͤze mich zu einer ungebuͤhrlichen Strenge in der Sittenlehre ver- leiten: ſo hoͤre das Zeugniß eines Mannes, von dem wohl keiner eine Uebertreibung in Urtheilen dieſer Art erwarten wird. “Sogar die unſchul- digſte Liebe, diejenige, welche in jungen enthu- ſiaſtiſchen Selen ſo ſchoͤn mit der Tugend zuſam- men zu ſtimmen ſcheint, fuͤhrt ein ſchleichendes Gift bei ſich, deſſen Wirkungen um deſto gefaͤhr- licher ſind, weil es langſam und durch unmerk-
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und unſchuldigſte Liebe fuͤr die Sele eines
Juͤnglings, dem Alter und Gluͤksumſtaͤnde
noch nicht vergoͤnnen, die ehelige Gefaͤhr-
tin ſeines Lebens zu waͤhlen, ein verderb-
liches Gift ſei, welches ſie entnervt, wel-
ches jeden Keim des Guten in ihr erſtikt,
ſie unluſtig und unfaͤhig zu jeder edlen
Anſtrengung und zur Erwerbung ruͤhmli-
cher Verdienſte macht. Oder meinſt du etwa,
daß mein Alter und meine Grundſaͤze mich zu einer
ungebuͤhrlichen Strenge in der Sittenlehre ver-
leiten: ſo hoͤre das Zeugniß eines Mannes, von
dem wohl keiner eine Uebertreibung in Urtheilen
dieſer Art erwarten wird. “Sogar die unſchul-
digſte Liebe, diejenige, welche in jungen enthu-
ſiaſtiſchen Selen ſo ſchoͤn mit der Tugend zuſam-
men zu ſtimmen ſcheint, fuͤhrt ein ſchleichendes
Gift bei ſich, deſſen Wirkungen um deſto gefaͤhr-
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/293>, abgerufen am 22.11.2024.
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