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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

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gefunden haben. Die Quelle dieses algemeinen
Elendes, welches die Menschheit ergriffen hat,
ist nicht in Gott, nicht in der von ihm geschaffe-
nen Natur; sie ist in den Menschen selbst, in ih-
rem verwöhnten, von unreinen Leidenschaften un-
aufhörlich beunruhigten Herzen. Unter diesen
Leidenschaften gibt es vornemlich drei, welche das
in Wahrheit für die Menschen sind, was in der
Fabellehre die drei Höllenfurien für die Verdamten
waren; sie heissen Ehrsucht, Ueppigkeit und Un-
zucht.

Jede von diesen Leidenschaften ist ein gefräßiger
Wurm, der die schöne Blume, Glükseeligkeit ge-
nant, wovon der Schöpfer den Keim in alle seine
Geister gelegt hat, unaufhörlich an der Wurzel
benagt. Wehe dem Herzen, in welches der eine
oder der andere von ihnen sich einmal eingeschlichen
hat! Und -- o Jammer! in viele, vielleicht --
ich zitre, indem ichs sage -- vielleicht in die
meisten, haben alle drei zugleich den Eingang ge-
funden!

Daher die algemeine Unzufriedenheit unter
den Menschen! Daher die algemeine Erschlaffung

aller

gefunden haben. Die Quelle dieſes algemeinen
Elendes, welches die Menſchheit ergriffen hat,
iſt nicht in Gott, nicht in der von ihm geſchaffe-
nen Natur; ſie iſt in den Menſchen ſelbſt, in ih-
rem verwoͤhnten, von unreinen Leidenſchaften un-
aufhoͤrlich beunruhigten Herzen. Unter dieſen
Leidenſchaften gibt es vornemlich drei, welche das
in Wahrheit fuͤr die Menſchen ſind, was in der
Fabellehre die drei Hoͤllenfurien fuͤr die Verdamten
waren; ſie heiſſen Ehrſucht, Ueppigkeit und Un-
zucht.

Jede von dieſen Leidenſchaften iſt ein gefraͤßiger
Wurm, der die ſchoͤne Blume, Gluͤkſeeligkeit ge-
nant, wovon der Schoͤpfer den Keim in alle ſeine
Geiſter gelegt hat, unaufhoͤrlich an der Wurzel
benagt. Wehe dem Herzen, in welches der eine
oder der andere von ihnen ſich einmal eingeſchlichen
hat! Und — o Jammer! in viele, vielleicht —
ich zitre, indem ichs ſage — vielleicht in die
meiſten, haben alle drei zugleich den Eingang ge-
funden!

Daher die algemeine Unzufriedenheit unter
den Menſchen! Daher die algemeine Erſchlaffung

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[12/0042] gefunden haben. Die Quelle dieſes algemeinen Elendes, welches die Menſchheit ergriffen hat, iſt nicht in Gott, nicht in der von ihm geſchaffe- nen Natur; ſie iſt in den Menſchen ſelbſt, in ih- rem verwoͤhnten, von unreinen Leidenſchaften un- aufhoͤrlich beunruhigten Herzen. Unter dieſen Leidenſchaften gibt es vornemlich drei, welche das in Wahrheit fuͤr die Menſchen ſind, was in der Fabellehre die drei Hoͤllenfurien fuͤr die Verdamten waren; ſie heiſſen Ehrſucht, Ueppigkeit und Un- zucht. Jede von dieſen Leidenſchaften iſt ein gefraͤßiger Wurm, der die ſchoͤne Blume, Gluͤkſeeligkeit ge- nant, wovon der Schoͤpfer den Keim in alle ſeine Geiſter gelegt hat, unaufhoͤrlich an der Wurzel benagt. Wehe dem Herzen, in welches der eine oder der andere von ihnen ſich einmal eingeſchlichen hat! Und — o Jammer! in viele, vielleicht — ich zitre, indem ichs ſage — vielleicht in die meiſten, haben alle drei zugleich den Eingang ge- funden! Daher die algemeine Unzufriedenheit unter den Menſchen! Daher die algemeine Erſchlaffung aller

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/42>, abgerufen am 21.11.2024.