Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

weniger Sonne? Und wird sie, wenn die krie-
chende Raupe auf ihrem Kohlblat sie verkent,
nicht von dem königlichen Adler bemerkt, der
sich über die Wolken schwingt? -- Crede
mihi, bene vixit, bene qui latuit!



Die zweite besondere Regel, welche aus jener
algemeinen, die ich dir empfohlen habe, gleich-
fals abfließt, ist diese: laß deinen moralischen
Wirkungskreis anfangs nur auf diejenigen
eingeschränkt sein, welche dir die nächsten
sind, und rükke die Grenzen desselben nur
in dem Maaße almählig weiter, in welchem
du deine Absicht bei diesen schon erreicht
hast, und nun noch Kräfte zu ausgedehn-
tern Wirkungen übrig fühlst
. Ich wil mich
umständlicher erklären.

Die endliche Kraft eines schwachen Sterblichen
ist ja nicht almächtig. Sie kan ja nicht, wie
Gottes Kraft, auf alle Wesen ausser ihr zugleich
wirken; sie muß also ihre jedesmaligen Wirkun-
gen nur auf einzelne Gegenstände einschränken.
Wer kan aber jedesmahl das nächste und größte

Recht
B 3

weniger Sonne? Und wird ſie, wenn die krie-
chende Raupe auf ihrem Kohlblat ſie verkent,
nicht von dem koͤniglichen Adler bemerkt, der
ſich uͤber die Wolken ſchwingt? — Crede
mihi, bene vixit, bene qui latuit!



Die zweite beſondere Regel, welche aus jener
algemeinen, die ich dir empfohlen habe, gleich-
fals abfließt, iſt dieſe: laß deinen moraliſchen
Wirkungskreis anfangs nur auf diejenigen
eingeſchraͤnkt ſein, welche dir die naͤchſten
ſind, und ruͤkke die Grenzen deſſelben nur
in dem Maaße almaͤhlig weiter, in welchem
du deine Abſicht bei dieſen ſchon erreicht
haſt, und nun noch Kraͤfte zu ausgedehn-
tern Wirkungen uͤbrig fuͤhlſt
. Ich wil mich
umſtaͤndlicher erklaͤren.

Die endliche Kraft eines ſchwachen Sterblichen
iſt ja nicht almaͤchtig. Sie kan ja nicht, wie
Gottes Kraft, auf alle Weſen auſſer ihr zugleich
wirken; ſie muß alſo ihre jedesmaligen Wirkun-
gen nur auf einzelne Gegenſtaͤnde einſchraͤnken.
Wer kan aber jedesmahl das naͤchſte und groͤßte

Recht
B 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0051" n="21"/>
weniger Sonne? Und wird &#x017F;ie, wenn die krie-<lb/>
chende Raupe auf ihrem Kohlblat &#x017F;ie verkent,<lb/>
nicht von dem ko&#x0364;niglichen Adler bemerkt, der<lb/>
&#x017F;ich u&#x0364;ber die Wolken &#x017F;chwingt? &#x2014; <hi rendition="#aq">Crede<lb/>
mihi, bene vixit, bene qui latuit!</hi></p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Die zweite be&#x017F;ondere Regel, welche aus jener<lb/>
algemeinen, die ich dir empfohlen habe, gleich-<lb/>
fals abfließt, i&#x017F;t die&#x017F;e: <hi rendition="#fr">laß deinen morali&#x017F;chen<lb/>
Wirkungskreis anfangs nur auf diejenigen<lb/>
einge&#x017F;chra&#x0364;nkt &#x017F;ein, welche dir die na&#x0364;ch&#x017F;ten<lb/>
&#x017F;ind, und ru&#x0364;kke die Grenzen de&#x017F;&#x017F;elben nur<lb/>
in dem Maaße alma&#x0364;hlig weiter, in welchem<lb/>
du deine Ab&#x017F;icht bei die&#x017F;en &#x017F;chon erreicht<lb/>
ha&#x017F;t, und nun noch Kra&#x0364;fte zu ausgedehn-<lb/>
tern Wirkungen u&#x0364;brig fu&#x0364;hl&#x017F;t</hi>. Ich wil mich<lb/>
um&#x017F;ta&#x0364;ndlicher erkla&#x0364;ren.</p><lb/>
        <p>Die endliche Kraft eines &#x017F;chwachen Sterblichen<lb/>
i&#x017F;t ja nicht alma&#x0364;chtig. Sie kan ja nicht, wie<lb/>
Gottes Kraft, auf alle We&#x017F;en au&#x017F;&#x017F;er ihr zugleich<lb/>
wirken; &#x017F;ie muß al&#x017F;o ihre jedesmaligen Wirkun-<lb/>
gen nur auf einzelne Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde ein&#x017F;chra&#x0364;nken.<lb/>
Wer kan aber jedesmahl das na&#x0364;ch&#x017F;te und gro&#x0364;ßte<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B 3</fw><fw place="bottom" type="catch">Recht</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0051] weniger Sonne? Und wird ſie, wenn die krie- chende Raupe auf ihrem Kohlblat ſie verkent, nicht von dem koͤniglichen Adler bemerkt, der ſich uͤber die Wolken ſchwingt? — Crede mihi, bene vixit, bene qui latuit! Die zweite beſondere Regel, welche aus jener algemeinen, die ich dir empfohlen habe, gleich- fals abfließt, iſt dieſe: laß deinen moraliſchen Wirkungskreis anfangs nur auf diejenigen eingeſchraͤnkt ſein, welche dir die naͤchſten ſind, und ruͤkke die Grenzen deſſelben nur in dem Maaße almaͤhlig weiter, in welchem du deine Abſicht bei dieſen ſchon erreicht haſt, und nun noch Kraͤfte zu ausgedehn- tern Wirkungen uͤbrig fuͤhlſt. Ich wil mich umſtaͤndlicher erklaͤren. Die endliche Kraft eines ſchwachen Sterblichen iſt ja nicht almaͤchtig. Sie kan ja nicht, wie Gottes Kraft, auf alle Weſen auſſer ihr zugleich wirken; ſie muß alſo ihre jedesmaligen Wirkun- gen nur auf einzelne Gegenſtaͤnde einſchraͤnken. Wer kan aber jedesmahl das naͤchſte und groͤßte Recht B 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/51
Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/51>, abgerufen am 24.11.2024.