Du weißt, mein Sohn, daß ich nie damit umging, deiner Sele einen, zwar oft gut ge- meinten, aber immer schädlichen Aberglauben ein- zuflößen. Nie habe ich blinden Glauben von dir gefodert; ich habe dich vielmehr selbst untersu- chen, und dan aus eigner Ueberzeugung für wahr halten gelehrt, was dir als Wahrheit einleuchtete. Diesem meinen Grundsaze getreu wil ich dir auch jezt nicht weiß zu machen suchen, daß Gott um deines Gebeths willen die ewigen Geseze der Natur umändern, und deine Geistesfähigkeiten auf eine wunderthätige Weise erhöhen und stärken werde. Nein, Kleon, das erwarte nicht von ihm: aber sei demohngeachtet versichert, daß dein Gebeth Erhörung finden werde. Und wie sol das zu- gehn? wirst du fragen. Du hast Recht; ich scheine mir zu widersprechen: aber ich wil mich erklären.
Erstlich ist es eine algemeine Erfahrung aller, die es versucht und auf sich selbst geachtet haben, daß jede ernstliche Erhebung unserer Ge- danken auf große Gegenstände, und also vornehm- lich auch auf das größte, herlichste, erhabenste
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Du weißt, mein Sohn, daß ich nie damit umging, deiner Sele einen, zwar oft gut ge- meinten, aber immer ſchaͤdlichen Aberglauben ein- zufloͤßen. Nie habe ich blinden Glauben von dir gefodert; ich habe dich vielmehr ſelbſt unterſu- chen, und dan aus eigner Ueberzeugung fuͤr wahr halten gelehrt, was dir als Wahrheit einleuchtete. Dieſem meinen Grundſaze getreu wil ich dir auch jezt nicht weiß zu machen ſuchen, daß Gott um deines Gebeths willen die ewigen Geſeze der Natur umaͤndern, und deine Geiſtesfaͤhigkeiten auf eine wunderthaͤtige Weiſe erhoͤhen und ſtaͤrken werde. Nein, Kleon, das erwarte nicht von ihm: aber ſei demohngeachtet verſichert, daß dein Gebeth Erhoͤrung finden werde. Und wie ſol das zu- gehn? wirſt du fragen. Du haſt Recht; ich ſcheine mir zu widerſprechen: aber ich wil mich erklaͤren.
Erſtlich iſt es eine algemeine Erfahrung aller, die es verſucht und auf ſich ſelbſt geachtet haben, daß jede ernſtliche Erhebung unſerer Ge- danken auf große Gegenſtaͤnde, und alſo vornehm- lich auch auf das groͤßte, herlichſte, erhabenſte
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Du weißt, mein Sohn, daß ich nie damit
umging, deiner Sele einen, zwar oft gut ge-
meinten, aber immer ſchaͤdlichen Aberglauben ein-
zufloͤßen. Nie habe ich blinden Glauben von dir
gefodert; ich habe dich vielmehr ſelbſt unterſu-
chen, und dan aus eigner Ueberzeugung fuͤr wahr
halten gelehrt, was dir als Wahrheit einleuchtete.
Dieſem meinen Grundſaze getreu wil ich dir auch
jezt nicht weiß zu machen ſuchen, daß Gott um
deines Gebeths willen die ewigen Geſeze der Natur
umaͤndern, und deine Geiſtesfaͤhigkeiten auf eine
wunderthaͤtige Weiſe erhoͤhen und ſtaͤrken werde.
Nein, Kleon, das erwarte nicht von ihm: aber
ſei demohngeachtet verſichert, daß dein Gebeth
Erhoͤrung finden werde. Und wie ſol das zu-
gehn? wirſt du fragen. Du haſt Recht; ich
ſcheine mir zu widerſprechen: aber ich wil mich
erklaͤren.
Erſtlich iſt es eine algemeine Erfahrung
aller, die es verſucht und auf ſich ſelbſt geachtet
haben, daß jede ernſtliche Erhebung unſerer Ge-
danken auf große Gegenſtaͤnde, und alſo vornehm-
lich auch auf das groͤßte, herlichſte, erhabenſte
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/71>, abgerufen am 21.11.2024.
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