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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

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Wenn dir der Auftrag gegeben würde, ein
Bündel vereinigter Ruthen zu zerbrechen: so
würdest du dir vergebens die Hände zerarbeiten,
so lange die einzelnen Reiser mit einander ver-
bunden wären. Aber ein bloßes Spiel würd-
es für dich sein, nach aufgelöstem Bande, jedes
Reischen insbesondere zu zerknikken.

Eben so verlegen ist der Man von Geschäften,
wenn zu viele und zu mannigfaltige Verrichtungen
seiner arbeitenden Sele sich auf einmahl darstellen.
Er thue also das, was er im erstern Falle thun
würde; er trenne ein Geschäfte von dem
andern, nehme jedes insbesondere vor, und
vergesse auf eine Zeitlang, daß die andern
alle in der Welt sind: so wird er allen ge-
wachsen
sein. Eine solche Eintheilung unserer
Arbeiten ist von großer Wichtigkeit. Denn die
Vorstellung, daß viele und mannigfaltige Ge-
schäfte auf uns warten, versezt uns in eine ge-
wisse Aengstlichkeit, die unsere Selenkräfte be-
klemt, und jede freie und große Wirksamkeit der-
selben unmöglich macht. Wir mögen noch so viel
Geisteskräfte besizen, so sind und bleiben wir doch

immer

Wenn dir der Auftrag gegeben wuͤrde, ein
Buͤndel vereinigter Ruthen zu zerbrechen: ſo
wuͤrdeſt du dir vergebens die Haͤnde zerarbeiten,
ſo lange die einzelnen Reiſer mit einander ver-
bunden waͤren. Aber ein bloßes Spiel wuͤrd-
es fuͤr dich ſein, nach aufgeloͤſtem Bande, jedes
Reischen insbeſondere zu zerknikken.

Eben ſo verlegen iſt der Man von Geſchaͤften,
wenn zu viele und zu mannigfaltige Verrichtungen
ſeiner arbeitenden Sele ſich auf einmahl darſtellen.
Er thue alſo das, was er im erſtern Falle thun
wuͤrde; er trenne ein Geſchaͤfte von dem
andern, nehme jedes insbeſondere vor, und
vergeſſe auf eine Zeitlang, daß die andern
alle in der Welt ſind: ſo wird er allen ge-
wachſen
ſein. Eine ſolche Eintheilung unſerer
Arbeiten iſt von großer Wichtigkeit. Denn die
Vorſtellung, daß viele und mannigfaltige Ge-
ſchaͤfte auf uns warten, verſezt uns in eine ge-
wiſſe Aengſtlichkeit, die unſere Selenkraͤfte be-
klemt, und jede freie und große Wirkſamkeit der-
ſelben unmoͤglich macht. Wir moͤgen noch ſo viel
Geiſteskraͤfte beſizen, ſo ſind und bleiben wir doch

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[54/0084] Wenn dir der Auftrag gegeben wuͤrde, ein Buͤndel vereinigter Ruthen zu zerbrechen: ſo wuͤrdeſt du dir vergebens die Haͤnde zerarbeiten, ſo lange die einzelnen Reiſer mit einander ver- bunden waͤren. Aber ein bloßes Spiel wuͤrd- es fuͤr dich ſein, nach aufgeloͤſtem Bande, jedes Reischen insbeſondere zu zerknikken. Eben ſo verlegen iſt der Man von Geſchaͤften, wenn zu viele und zu mannigfaltige Verrichtungen ſeiner arbeitenden Sele ſich auf einmahl darſtellen. Er thue alſo das, was er im erſtern Falle thun wuͤrde; er trenne ein Geſchaͤfte von dem andern, nehme jedes insbeſondere vor, und vergeſſe auf eine Zeitlang, daß die andern alle in der Welt ſind: ſo wird er allen ge- wachſen ſein. Eine ſolche Eintheilung unſerer Arbeiten iſt von großer Wichtigkeit. Denn die Vorſtellung, daß viele und mannigfaltige Ge- ſchaͤfte auf uns warten, verſezt uns in eine ge- wiſſe Aengſtlichkeit, die unſere Selenkraͤfte be- klemt, und jede freie und große Wirkſamkeit der- ſelben unmoͤglich macht. Wir moͤgen noch ſo viel Geiſteskraͤfte beſizen, ſo ſind und bleiben wir doch immer

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/84>, abgerufen am 17.05.2024.