Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

wesen, und geben sich für Augenzeugen davon aus.
Sie selbst haben Dinge gethan, die noch von
keinem andern jemahls versucht, oder volbracht
worden sind. Sie sind stets die Helden ihrer
eignen Mährchen, und glauben dadurch Achtung
oder wenigstens gegenwärtige Aufmerksamkeit zu
gewinnen. Alles jedoch, was sie wirklich davon
tragen, ist Gelächter und Verachtung, nebst einem
guten Theile von Mistrauen. Denn man muß
natürlicher Weise schließen: wer irgend eine Lüge
aus bloßer Eitelkeit vorbringt, der werde kein
Bedenken tragen, eine noch größere zu seinem
Vortheile zu sagen.

Hätt' ich wirklich etwas so Außerordentliches
gesehen, daß es fast unglaublich wäre: so wolt'
ich es lieber bei mir behalten, als jemandem eine
Minute lang Anlaß geben, an meiner Wahrheits-
liebe zu zweifeln. Es ist ausgemacht, daß einem
Frauenzimmer der Ruf der Keuschheit nicht noth-
wendiger ist, als der Ruf der Wahrheitsliebe
einem Manne.

Um Gottes willen halte gewissenhaft und
eifersüchtig über der Reinigkeit deines sitlichen

guten
J 2

weſen, und geben ſich fuͤr Augenzeugen davon aus.
Sie ſelbſt haben Dinge gethan, die noch von
keinem andern jemahls verſucht, oder volbracht
worden ſind. Sie ſind ſtets die Helden ihrer
eignen Maͤhrchen, und glauben dadurch Achtung
oder wenigſtens gegenwaͤrtige Aufmerkſamkeit zu
gewinnen. Alles jedoch, was ſie wirklich davon
tragen, iſt Gelaͤchter und Verachtung, nebſt einem
guten Theile von Mistrauen. Denn man muß
natuͤrlicher Weiſe ſchließen: wer irgend eine Luͤge
aus bloßer Eitelkeit vorbringt, der werde kein
Bedenken tragen, eine noch groͤßere zu ſeinem
Vortheile zu ſagen.

Haͤtt’ ich wirklich etwas ſo Außerordentliches
geſehen, daß es faſt unglaublich waͤre: ſo wolt’
ich es lieber bei mir behalten, als jemandem eine
Minute lang Anlaß geben, an meiner Wahrheits-
liebe zu zweifeln. Es iſt ausgemacht, daß einem
Frauenzimmer der Ruf der Keuſchheit nicht noth-
wendiger iſt, als der Ruf der Wahrheitsliebe
einem Manne.

Um Gottes willen halte gewiſſenhaft und
eiferſuͤchtig uͤber der Reinigkeit deines ſitlichen

guten
J 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0137" n="131"/>
we&#x017F;en, und geben &#x017F;ich fu&#x0364;r Augenzeugen davon aus.<lb/>
Sie &#x017F;elb&#x017F;t haben Dinge gethan, die noch von<lb/>
keinem andern jemahls ver&#x017F;ucht, oder volbracht<lb/>
worden &#x017F;ind. Sie &#x017F;ind &#x017F;tets die Helden ihrer<lb/>
eignen Ma&#x0364;hrchen, und glauben dadurch Achtung<lb/>
oder wenig&#x017F;tens gegenwa&#x0364;rtige Aufmerk&#x017F;amkeit zu<lb/>
gewinnen. Alles jedoch, was &#x017F;ie wirklich davon<lb/>
tragen, i&#x017F;t Gela&#x0364;chter und Verachtung, neb&#x017F;t einem<lb/>
guten Theile von Mistrauen. Denn man muß<lb/>
natu&#x0364;rlicher Wei&#x017F;e &#x017F;chließen: wer irgend eine Lu&#x0364;ge<lb/>
aus bloßer Eitelkeit vorbringt, der werde kein<lb/>
Bedenken tragen, eine noch gro&#x0364;ßere zu &#x017F;einem<lb/>
Vortheile zu &#x017F;agen.</p><lb/>
        <p>Ha&#x0364;tt&#x2019; ich wirklich etwas &#x017F;o Außerordentliches<lb/>
ge&#x017F;ehen, daß es fa&#x017F;t unglaublich wa&#x0364;re: &#x017F;o wolt&#x2019;<lb/>
ich es lieber bei mir behalten, als jemandem eine<lb/>
Minute lang Anlaß geben, an meiner Wahrheits-<lb/>
liebe zu zweifeln. Es i&#x017F;t ausgemacht, daß einem<lb/>
Frauenzimmer der Ruf der Keu&#x017F;chheit nicht noth-<lb/>
wendiger i&#x017F;t, als der Ruf der Wahrheitsliebe<lb/>
einem Manne.</p><lb/>
        <p>Um Gottes willen halte gewi&#x017F;&#x017F;enhaft und<lb/>
eifer&#x017F;u&#x0364;chtig u&#x0364;ber der Reinigkeit deines &#x017F;itlichen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">J 2</fw><fw place="bottom" type="catch">guten</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[131/0137] weſen, und geben ſich fuͤr Augenzeugen davon aus. Sie ſelbſt haben Dinge gethan, die noch von keinem andern jemahls verſucht, oder volbracht worden ſind. Sie ſind ſtets die Helden ihrer eignen Maͤhrchen, und glauben dadurch Achtung oder wenigſtens gegenwaͤrtige Aufmerkſamkeit zu gewinnen. Alles jedoch, was ſie wirklich davon tragen, iſt Gelaͤchter und Verachtung, nebſt einem guten Theile von Mistrauen. Denn man muß natuͤrlicher Weiſe ſchließen: wer irgend eine Luͤge aus bloßer Eitelkeit vorbringt, der werde kein Bedenken tragen, eine noch groͤßere zu ſeinem Vortheile zu ſagen. Haͤtt’ ich wirklich etwas ſo Außerordentliches geſehen, daß es faſt unglaublich waͤre: ſo wolt’ ich es lieber bei mir behalten, als jemandem eine Minute lang Anlaß geben, an meiner Wahrheits- liebe zu zweifeln. Es iſt ausgemacht, daß einem Frauenzimmer der Ruf der Keuſchheit nicht noth- wendiger iſt, als der Ruf der Wahrheitsliebe einem Manne. Um Gottes willen halte gewiſſenhaft und eiferſuͤchtig uͤber der Reinigkeit deines ſitlichen guten J 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/137
Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/137>, abgerufen am 04.12.2024.