Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783.Schaam, wie vernichtet, oder, wenn er sich er- (Die Menschen werden mehr durch den Schein hat,
Schaam, wie vernichtet, oder, wenn er ſich er- (Die Menſchen werden mehr durch den Schein hat,
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0030" n="24"/> Schaam, wie vernichtet, oder, wenn er ſich er-<lb/> mannet, und nun glaubt, ſich bis zu einer be-<lb/> ſcheidnen Dreiſtigkeit hinaufgearbeitet zu haben,<lb/> verfaͤlt er in Unverſchaͤmtheit, und wird abge-<lb/> ſchmakt; er beleidigt, indem er zu gefallen dachte.<lb/> Trage alſo immer, ſo viel du kanſt, dieſes <hi rendition="#aq">air de<lb/> douceur</hi> an dir, welches allemahl einen vortheil-<lb/> haften Eindruck macht, wofern es nicht in ein<lb/> ſchales Laͤcheln, oder in ein hoͤhniſches Grinzen<lb/> ausartet.</p><lb/> <p>(Die Menſchen werden mehr durch den Schein<lb/> beherſcht, als durch die Wirklichkeit. Es iſt<lb/> daher nicht genug, ſanfte, duldſame und milde<lb/> Geſinnungen im Herzen zu haben; man muß das<lb/> innerliche Daſein derſelben auch durch ſein Aeuſſer-<lb/> liches an den Tag zu legen ſuchen. Wenige Leute<lb/> haben Scharfſichtigkeit genug, mehr als das<lb/> Aeuſſerliche zu entdekken, noch Aufmerkſamkeit<lb/> genug, mehr zu beobachten, noch Sorgfalt genug,<lb/> mehr zu unterſuchen. Ihre Begriffe nehmen ſie<lb/> von der Oberflaͤche; tiefer dringen ſie nicht. Sie<lb/> loben den, als den ſanfteſten, gutartigſten Men-<lb/> ſchen, der das einnehmendſte aͤuſſerliche Bezeigen<lb/> <fw place="bottom" type="catch">hat,</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [24/0030]
Schaam, wie vernichtet, oder, wenn er ſich er-
mannet, und nun glaubt, ſich bis zu einer be-
ſcheidnen Dreiſtigkeit hinaufgearbeitet zu haben,
verfaͤlt er in Unverſchaͤmtheit, und wird abge-
ſchmakt; er beleidigt, indem er zu gefallen dachte.
Trage alſo immer, ſo viel du kanſt, dieſes air de
douceur an dir, welches allemahl einen vortheil-
haften Eindruck macht, wofern es nicht in ein
ſchales Laͤcheln, oder in ein hoͤhniſches Grinzen
ausartet.
(Die Menſchen werden mehr durch den Schein
beherſcht, als durch die Wirklichkeit. Es iſt
daher nicht genug, ſanfte, duldſame und milde
Geſinnungen im Herzen zu haben; man muß das
innerliche Daſein derſelben auch durch ſein Aeuſſer-
liches an den Tag zu legen ſuchen. Wenige Leute
haben Scharfſichtigkeit genug, mehr als das
Aeuſſerliche zu entdekken, noch Aufmerkſamkeit
genug, mehr zu beobachten, noch Sorgfalt genug,
mehr zu unterſuchen. Ihre Begriffe nehmen ſie
von der Oberflaͤche; tiefer dringen ſie nicht. Sie
loben den, als den ſanfteſten, gutartigſten Men-
ſchen, der das einnehmendſte aͤuſſerliche Bezeigen
hat,
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