Candidus, Karl: Der deutsche Christus. Fünfzehn Canzonen. Leipzig, 1844.Er war schon vordem als Vernunftanstreben In mir, gab meiner Jugend Freiheitsliebe Und eignen Gang, gab heil'ger Ortnung Ahnen, Und brachte Maß in's Spiel der dunkeln Triebe, Und leitete mir unbewußt mein Leben Lang eh' das Ziel ich kannte meiner Bahnen. Er war im hehren Mahnen Der Stimme des Gewissens und der Glocken, (Bewußtsein war's der Menschheit) als, ein Knabe, Ich schluchzt' an deinem Grabe, Lieb Schwesterlein du mit den Engelslocken, Weil ich dir einmal, da wolmeinend strenge Zu sein ich glaubte, hart war, roh und enge. Ja eh' ich ward, ist er in mir gewesen
Und ich in ihm, doch wußt' ich Solches nimmer Bis ich als den Gekreuzigten ihn kannte, Bis er in seiner Liebe hohem Schimmer Still vor mich hintrat, als ich zu genesen Von herber Sehnsucht mich umsonst ermannte. O wie mein Herz da brannte Als neu sich auf des geist'gen Auges Netze Sein Bild herstellte und ich mich erinnernd Und immer mehr erinnernd Ihn vor mir sah, und Edens Freudenplätze, Aeonenlang verschüttet und vergessen, Sich breiteten zu reuigem Ermessen! Er war ſchon vordem als Vernunftanſtreben In mir, gab meiner Jugend Freiheitsliebe Und eignen Gang, gab heil'ger Ortnung Ahnen, Und brachte Maß in's Spiel der dunkeln Triebe, Und leitete mir unbewußt mein Leben Lang eh' das Ziel ich kannte meiner Bahnen. Er war im hehren Mahnen Der Stimme des Gewiſſens und der Glocken, (Bewußtſein war's der Menſchheit) als, ein Knabe, Ich ſchluchzt' an deinem Grabe, Lieb Schweſterlein du mit den Engelslocken, Weil ich dir einmal, da wolmeinend ſtrenge Zu ſein ich glaubte, hart war, roh und enge. Ja eh' ich ward, iſt er in mir geweſen
Und ich in ihm, doch wußt' ich Solches nimmer Bis ich als den Gekreuzigten ihn kannte, Bis er in ſeiner Liebe hohem Schimmer Still vor mich hintrat, als ich zu geneſen Von herber Sehnſucht mich umſonſt ermannte. O wie mein Herz da brannte Als neu ſich auf des geiſt'gen Auges Netze Sein Bild herſtellte und ich mich erinnernd Und immer mehr erinnernd Ihn vor mir ſah, und Edens Freudenplätze, Aeonenlang verſchüttet und vergeſſen, Sich breiteten zu reuigem Ermeſſen! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0036" n="22"/> <lg n="20"> <l>Er war ſchon vordem als Vernunftanſtreben</l><lb/> <l>In mir, gab meiner Jugend Freiheitsliebe</l><lb/> <l>Und eignen Gang, gab heil'ger Ortnung Ahnen,</l><lb/> <l>Und brachte Maß in's Spiel der dunkeln Triebe,</l><lb/> <l>Und leitete mir unbewußt mein Leben</l><lb/> <l>Lang eh' das Ziel ich kannte meiner Bahnen.</l><lb/> <l>Er war im hehren Mahnen</l><lb/> <l>Der Stimme des Gewiſſens und der Glocken,</l><lb/> <l>(Bewußtſein war's der Menſchheit) als, ein Knabe,</l><lb/> <l>Ich ſchluchzt' an deinem Grabe,</l><lb/> <l>Lieb Schweſterlein du mit den Engelslocken,</l><lb/> <l>Weil ich dir einmal, da wolmeinend ſtrenge</l><lb/> <l>Zu ſein ich glaubte, hart war, roh und enge.</l><lb/> </lg> <lg n="21"> <l>Ja eh' ich ward, iſt er in mir geweſen</l><lb/> <l>Und ich in ihm, doch wußt' ich Solches nimmer</l><lb/> <l>Bis ich als den Gekreuzigten ihn kannte,</l><lb/> <l>Bis er in ſeiner Liebe hohem Schimmer</l><lb/> <l>Still vor mich hintrat, als ich zu geneſen</l><lb/> <l>Von herber Sehnſucht mich umſonſt ermannte.</l><lb/> <l>O wie mein Herz da brannte</l><lb/> <l>Als neu ſich auf des geiſt'gen Auges Netze</l><lb/> <l>Sein Bild herſtellte und ich mich erinnernd</l><lb/> <l>Und immer mehr erinnernd</l><lb/> <l><hi rendition="#g">Ihn</hi> vor mir ſah, und Edens Freudenplätze,</l><lb/> <l>Aeonenlang verſchüttet und vergeſſen,</l><lb/> <l>Sich breiteten zu reuigem Ermeſſen!</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [22/0036]
Er war ſchon vordem als Vernunftanſtreben
In mir, gab meiner Jugend Freiheitsliebe
Und eignen Gang, gab heil'ger Ortnung Ahnen,
Und brachte Maß in's Spiel der dunkeln Triebe,
Und leitete mir unbewußt mein Leben
Lang eh' das Ziel ich kannte meiner Bahnen.
Er war im hehren Mahnen
Der Stimme des Gewiſſens und der Glocken,
(Bewußtſein war's der Menſchheit) als, ein Knabe,
Ich ſchluchzt' an deinem Grabe,
Lieb Schweſterlein du mit den Engelslocken,
Weil ich dir einmal, da wolmeinend ſtrenge
Zu ſein ich glaubte, hart war, roh und enge.
Ja eh' ich ward, iſt er in mir geweſen
Und ich in ihm, doch wußt' ich Solches nimmer
Bis ich als den Gekreuzigten ihn kannte,
Bis er in ſeiner Liebe hohem Schimmer
Still vor mich hintrat, als ich zu geneſen
Von herber Sehnſucht mich umſonſt ermannte.
O wie mein Herz da brannte
Als neu ſich auf des geiſt'gen Auges Netze
Sein Bild herſtellte und ich mich erinnernd
Und immer mehr erinnernd
Ihn vor mir ſah, und Edens Freudenplätze,
Aeonenlang verſchüttet und vergeſſen,
Sich breiteten zu reuigem Ermeſſen!
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Zitationshilfe: | Candidus, Karl: Der deutsche Christus. Fünfzehn Canzonen. Leipzig, 1844, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/candidus_christus_1854/36>, abgerufen am 16.07.2024. |