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Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745.

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8. Bajeßid der II
selbst an die Hand gäbe. Diese wurde ihm auch kurz hierauf von dem Glücke
angetragen, auf eine Weise, die er so gut selbst nicht vermuthet hatte. Olaj-
dewlet 30, ein kleiner Fürst von einigen Ländern in Asien, lässet sich durch eine
unzeitige Begierde, sein Gebiet zu erweitern, dahin verleiten, daß er versuchet,
den Tscherkassiern 31 gewisse Städte in Asien aus den Händen zu reißen. Weil
[Spaltenumbruch]
dem christlichen Glauben wären bekehret wor-
den: nach der Zeit aber, als die Türken die
Krim erobert, wären sie ihrer Priester berau-
bet worden, und darauf wieder in ihre vorige
Unwissenheit verfallen. Zum Beweise dieser
Meinung führen sie an, daß die Kabartaj,
ehe sie mit der muhämmedischen Lehre ange-
stecket worden, einen unter dem Namen Peter
sehr hoch unter sich verehret hätten, es auch
bey ihnen erlaubt gewesen wäre, Schweine-
fleisch zu essen, dessen sich heutiges Tages ei-
nige von ihnen enthalten. Sie stehen unter
keinen Gesetzen, und haben auch keine Richter;
weil sie fest versichert sind, daß das Gewissen
schuldiger Personen eine völlige und hinläng-
liche Strafe für dieselben sey. Vor diesem
lebten sie ohne alle Wissenschaften: iedoch
vor weniger Zeit ließen sich einige, die die
muhämmedische Lehre annahmen, in der ara-
bischen Gelehrtheit unterrichten. Die übri-
gen verharren in ihrem alten Heidenthume,
und behalten bis auf den heutigen Tag ihre
vorigen wilden Sitten. Das ganze Land
wird in drey Fürstenthümer eingetheilet, von
denen Kabarta das Haupt ist. Sie senden
jährlich an den Chan der krimischen Tatarey,
als einen Tribut, zwey hundert junge Manns-
personen und hundert Jungfern. Diese wer-
den nicht nach Belieben ausgesuchet, son-
dern durch das Los gewählet. Diejenigen
von ihnen, die auch nur unter den Tatarn
geboren sind, haben weder das Angesicht,
noch die übrige Gestalt dieses Volkes: und
wer da sagte, daß sie das schönste unter allen
morgenländischen Völkern wären; der würde
[Spaltenumbruch]
der Wahrheit nicht sehr verfehlen. Sie er-
finden immer etwas neues in ihrer Kleidung
und Waffen, und die Tatarn ahmen ihnen
darinnen eifrig nach: so daß man sie wol die
Franzosen unter den Tatarn nennen möchte.
Ihr Land ist die Schule der Erziehung für
die Tatarn, und iedermann von ihnen, der
nicht die Kriegskünste und gute Aufführung
in dieser Schule gelernet hat, wird für einen
Tewtek oder nichtswürdigen unnützen Kerl
gehalten. Die Söhne der Chane in der Krim
werden, so bald sie das Licht erblicken, zu
den Tscherkassiern gesendet, um bey ihnen
gesäuget und aufgezogen zu werden. Wann
das Kind in Tscherkassien ankommt: so wird
derjenige, der eine Säugamme für dasselbe
hergiebt, der Ata oder Pflegevater des Sul-
tans genennet, und dieser ist hernach mit
seinem ganzen Geschlechte auf ewig von allen
Abgaben frey, weil er in einer Art der Brü-
derschaft mit dem Sultan stehet. Daher
streben alle Tscherkassier eifrig darnach, daß
eine von ihren Weibern oder Schwestern dem
Sohne des Chans wenigstens einmal die
Brust reichen, und ihnen dadurch die Be-
freyung von dem Tribute zuwege bringen
möge. Dieses wird oft mit Gewalt versu-
chet. Wenn ein Mann dem andern an
Stärke überlegen ist: so gehet er entweder
heimlich oder mit Gewalt in das Haus, da
der junge Sultan gesäuget wird, bemächtiget
sich seiner Person, und bringet ihn unverzüg-
lich in sein Haus, da er denselben seiner Frau
oder Schwester zu säugen giebt. Während
der zwey Jahre, da er gesäuget wird, gehet

er
2 A 2

8. Bajeßid der II
ſelbſt an die Hand gaͤbe. Dieſe wurde ihm auch kurz hierauf von dem Gluͤcke
angetragen, auf eine Weiſe, die er ſo gut ſelbſt nicht vermuthet hatte. Olaj-
dewlet 30, ein kleiner Fuͤrſt von einigen Laͤndern in Aſien, laͤſſet ſich durch eine
unzeitige Begierde, ſein Gebiet zu erweitern, dahin verleiten, daß er verſuchet,
den Tſcherkaſſiern 31 gewiſſe Staͤdte in Aſien aus den Haͤnden zu reißen. Weil
[Spaltenumbruch]
dem chriſtlichen Glauben waͤren bekehret wor-
den: nach der Zeit aber, als die Tuͤrken die
Krim erobert, waͤren ſie ihrer Prieſter berau-
bet worden, und darauf wieder in ihre vorige
Unwiſſenheit verfallen. Zum Beweiſe dieſer
Meinung fuͤhren ſie an, daß die Kabartaj,
ehe ſie mit der muhaͤmmediſchen Lehre ange-
ſtecket worden, einen unter dem Namen Peter
ſehr hoch unter ſich verehret haͤtten, es auch
bey ihnen erlaubt geweſen waͤre, Schweine-
fleiſch zu eſſen, deſſen ſich heutiges Tages ei-
nige von ihnen enthalten. Sie ſtehen unter
keinen Geſetzen, und haben auch keine Richter;
weil ſie feſt verſichert ſind, daß das Gewiſſen
ſchuldiger Perſonen eine voͤllige und hinlaͤng-
liche Strafe fuͤr dieſelben ſey. Vor dieſem
lebten ſie ohne alle Wiſſenſchaften: iedoch
vor weniger Zeit ließen ſich einige, die die
muhaͤmmediſche Lehre annahmen, in der ara-
biſchen Gelehrtheit unterrichten. Die uͤbri-
gen verharren in ihrem alten Heidenthume,
und behalten bis auf den heutigen Tag ihre
vorigen wilden Sitten. Das ganze Land
wird in drey Fuͤrſtenthuͤmer eingetheilet, von
denen Kabarta das Haupt iſt. Sie ſenden
jaͤhrlich an den Chan der krimiſchen Tatarey,
als einen Tribut, zwey hundert junge Manns-
perſonen und hundert Jungfern. Dieſe wer-
den nicht nach Belieben ausgeſuchet, ſon-
dern durch das Los gewaͤhlet. Diejenigen
von ihnen, die auch nur unter den Tatarn
geboren ſind, haben weder das Angeſicht,
noch die uͤbrige Geſtalt dieſes Volkes: und
wer da ſagte, daß ſie das ſchoͤnſte unter allen
morgenlaͤndiſchen Voͤlkern waͤren; der wuͤrde
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der Wahrheit nicht ſehr verfehlen. Sie er-
finden immer etwas neues in ihrer Kleidung
und Waffen, und die Tatarn ahmen ihnen
darinnen eifrig nach: ſo daß man ſie wol die
Franzoſen unter den Tatarn nennen moͤchte.
Ihr Land iſt die Schule der Erziehung fuͤr
die Tatarn, und iedermann von ihnen, der
nicht die Kriegskuͤnſte und gute Auffuͤhrung
in dieſer Schule gelernet hat, wird fuͤr einen
Tewtek oder nichtswuͤrdigen unnuͤtzen Kerl
gehalten. Die Soͤhne der Chane in der Krim
werden, ſo bald ſie das Licht erblicken, zu
den Tſcherkaſſiern geſendet, um bey ihnen
geſaͤuget und aufgezogen zu werden. Wann
das Kind in Tſcherkaſſien ankommt: ſo wird
derjenige, der eine Saͤugamme fuͤr daſſelbe
hergiebt, der Ata oder Pflegevater des Sul-
tans genennet, und dieſer iſt hernach mit
ſeinem ganzen Geſchlechte auf ewig von allen
Abgaben frey, weil er in einer Art der Bruͤ-
derſchaft mit dem Sultan ſtehet. Daher
ſtreben alle Tſcherkaſſier eifrig darnach, daß
eine von ihren Weibern oder Schweſtern dem
Sohne des Chans wenigſtens einmal die
Bruſt reichen, und ihnen dadurch die Be-
freyung von dem Tribute zuwege bringen
moͤge. Dieſes wird oft mit Gewalt verſu-
chet. Wenn ein Mann dem andern an
Staͤrke uͤberlegen iſt: ſo gehet er entweder
heimlich oder mit Gewalt in das Haus, da
der junge Sultan geſaͤuget wird, bemaͤchtiget
ſich ſeiner Perſon, und bringet ihn unverzuͤg-
lich in ſein Haus, da er denſelben ſeiner Frau
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er
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[187/0273] 8. Bajeßid der II ſelbſt an die Hand gaͤbe. Dieſe wurde ihm auch kurz hierauf von dem Gluͤcke angetragen, auf eine Weiſe, die er ſo gut ſelbſt nicht vermuthet hatte. Olaj- dewlet ³⁰ , ein kleiner Fuͤrſt von einigen Laͤndern in Aſien, laͤſſet ſich durch eine unzeitige Begierde, ſein Gebiet zu erweitern, dahin verleiten, daß er verſuchet, den Tſcherkaſſiern ³¹ gewiſſe Staͤdte in Aſien aus den Haͤnden zu reißen. Weil er dem chriſtlichen Glauben waͤren bekehret wor- den: nach der Zeit aber, als die Tuͤrken die Krim erobert, waͤren ſie ihrer Prieſter berau- bet worden, und darauf wieder in ihre vorige Unwiſſenheit verfallen. Zum Beweiſe dieſer Meinung fuͤhren ſie an, daß die Kabartaj, ehe ſie mit der muhaͤmmediſchen Lehre ange- ſtecket worden, einen unter dem Namen Peter ſehr hoch unter ſich verehret haͤtten, es auch bey ihnen erlaubt geweſen waͤre, Schweine- fleiſch zu eſſen, deſſen ſich heutiges Tages ei- nige von ihnen enthalten. Sie ſtehen unter keinen Geſetzen, und haben auch keine Richter; weil ſie feſt verſichert ſind, daß das Gewiſſen ſchuldiger Perſonen eine voͤllige und hinlaͤng- liche Strafe fuͤr dieſelben ſey. Vor dieſem lebten ſie ohne alle Wiſſenſchaften: iedoch vor weniger Zeit ließen ſich einige, die die muhaͤmmediſche Lehre annahmen, in der ara- biſchen Gelehrtheit unterrichten. Die uͤbri- gen verharren in ihrem alten Heidenthume, und behalten bis auf den heutigen Tag ihre vorigen wilden Sitten. Das ganze Land wird in drey Fuͤrſtenthuͤmer eingetheilet, von denen Kabarta das Haupt iſt. Sie ſenden jaͤhrlich an den Chan der krimiſchen Tatarey, als einen Tribut, zwey hundert junge Manns- perſonen und hundert Jungfern. Dieſe wer- den nicht nach Belieben ausgeſuchet, ſon- dern durch das Los gewaͤhlet. Diejenigen von ihnen, die auch nur unter den Tatarn geboren ſind, haben weder das Angeſicht, noch die uͤbrige Geſtalt dieſes Volkes: und wer da ſagte, daß ſie das ſchoͤnſte unter allen morgenlaͤndiſchen Voͤlkern waͤren; der wuͤrde der Wahrheit nicht ſehr verfehlen. Sie er- finden immer etwas neues in ihrer Kleidung und Waffen, und die Tatarn ahmen ihnen darinnen eifrig nach: ſo daß man ſie wol die Franzoſen unter den Tatarn nennen moͤchte. Ihr Land iſt die Schule der Erziehung fuͤr die Tatarn, und iedermann von ihnen, der nicht die Kriegskuͤnſte und gute Auffuͤhrung in dieſer Schule gelernet hat, wird fuͤr einen Tewtek oder nichtswuͤrdigen unnuͤtzen Kerl gehalten. Die Soͤhne der Chane in der Krim werden, ſo bald ſie das Licht erblicken, zu den Tſcherkaſſiern geſendet, um bey ihnen geſaͤuget und aufgezogen zu werden. Wann das Kind in Tſcherkaſſien ankommt: ſo wird derjenige, der eine Saͤugamme fuͤr daſſelbe hergiebt, der Ata oder Pflegevater des Sul- tans genennet, und dieſer iſt hernach mit ſeinem ganzen Geſchlechte auf ewig von allen Abgaben frey, weil er in einer Art der Bruͤ- derſchaft mit dem Sultan ſtehet. Daher ſtreben alle Tſcherkaſſier eifrig darnach, daß eine von ihren Weibern oder Schweſtern dem Sohne des Chans wenigſtens einmal die Bruſt reichen, und ihnen dadurch die Be- freyung von dem Tribute zuwege bringen moͤge. Dieſes wird oft mit Gewalt verſu- chet. Wenn ein Mann dem andern an Staͤrke uͤberlegen iſt: ſo gehet er entweder heimlich oder mit Gewalt in das Haus, da der junge Sultan geſaͤuget wird, bemaͤchtiget ſich ſeiner Perſon, und bringet ihn unverzuͤg- lich in ſein Haus, da er denſelben ſeiner Frau oder Schweſter zu ſaͤugen giebt. Waͤhrend der zwey Jahre, da er geſaͤuget wird, gehet mehr 2 A 2

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Zitationshilfe: Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cantemir_geschichte_1745/273>, abgerufen am 22.11.2024.