wurde, und allerdings gerade wegen der überhaupt thätigern Reproduktion hier weniger überraschend, ja im Allgemeinen wohl nicht so unbegreiflich scheinen kann, als man großen- theils glaubt. Der Körper nämlich, dessen Existenz nur eben in einer stäten Verwandlung, in einem stäten Wechsel von Aufnahme und Zerstörung besteht, hat zwey Wege, diese Existenz zu sichern, entweder die Assimilation zu erhöhen, oder die Exkretion zu mindern, durch den Stand welcher Faktoren sich denn viele Erscheinungen erklären lassen. So sehen wir in acuten Krankheiten oft bey Hemmung so vieler Lebensäußerungen auch diesen Stoffwechsel sehr zurückgetreten und die Existenz durch eine äußerst geringe Stoffaufnahme lange Zeit unterhalten, mit welcher immer noch die, wenn auch oft sehr merkliche Stoffabnahme des Körpers in keinem Verhältnisse steht; so finden wir auch bey vielen Thieren (z. B. Amphibien und Fischen) eine lange Lebensdauer ohne merkliche Stoffaufnahme unschwer möglich, und daß dieß ganz besonders während der Entwicklungsperioden vorkomme, scheint in der Natur des Organismus begründet, welcher hier (eben so wie in Krankheiten, deren Ganzes immer wieder als organische Entwicklung betrachtet werden muß) zu sehr in sich beschäftigt ist, und dadurch in schwächere Wechsel- wirkung mit der Außenwelt tritt, weßhalb wir vorzüglich an Thieren, wenn sie sich verwandeln, eine sehr verminderte Nahrungsaufnahme bemerken. Raupen z. B. hören auf zu fressen, wenn sie sich einspinnen, und daß gerade, wenn in der Puppe das Thier zum Schmetterlinge umgestaltet wird, eine äußere Ernährung gar nicht weiter Statt findet, ist be- kannt; eben so fressen Vögel in der Mause weniger u. s. w.
§. 256.
Finden wir nun zur Zeit der Entwicklungsperiode ähn- liche Erscheinungen im Menschen, so sind wir gewiß nicht berechtigt, dieselben, ihrer Unmöglichkeit wegen, stets für absichtliche Betrügerey zu erklären, und wenn gleich in meh- rern Fällen theils in Folge unvorsichtigen ärztlichen Beneh- mens, theils durch gleichzeitig erwachte Eitelkeit der Kran- ken (s. §. 236.) Uebertreibungen der Thatsachen Statt ge-
wurde, und allerdings gerade wegen der uͤberhaupt thaͤtigern Reproduktion hier weniger uͤberraſchend, ja im Allgemeinen wohl nicht ſo unbegreiflich ſcheinen kann, als man großen- theils glaubt. Der Koͤrper naͤmlich, deſſen Exiſtenz nur eben in einer ſtaͤten Verwandlung, in einem ſtaͤten Wechſel von Aufnahme und Zerſtoͤrung beſteht, hat zwey Wege, dieſe Exiſtenz zu ſichern, entweder die Aſſimilation zu erhoͤhen, oder die Exkretion zu mindern, durch den Stand welcher Faktoren ſich denn viele Erſcheinungen erklaͤren laſſen. So ſehen wir in acuten Krankheiten oft bey Hemmung ſo vieler Lebensaͤußerungen auch dieſen Stoffwechſel ſehr zuruͤckgetreten und die Exiſtenz durch eine aͤußerſt geringe Stoffaufnahme lange Zeit unterhalten, mit welcher immer noch die, wenn auch oft ſehr merkliche Stoffabnahme des Koͤrpers in keinem Verhaͤltniſſe ſteht; ſo finden wir auch bey vielen Thieren (z. B. Amphibien und Fiſchen) eine lange Lebensdauer ohne merkliche Stoffaufnahme unſchwer moͤglich, und daß dieß ganz beſonders waͤhrend der Entwicklungsperioden vorkomme, ſcheint in der Natur des Organismus begruͤndet, welcher hier (eben ſo wie in Krankheiten, deren Ganzes immer wieder als organiſche Entwicklung betrachtet werden muß) zu ſehr in ſich beſchaͤftigt iſt, und dadurch in ſchwaͤchere Wechſel- wirkung mit der Außenwelt tritt, weßhalb wir vorzuͤglich an Thieren, wenn ſie ſich verwandeln, eine ſehr verminderte Nahrungsaufnahme bemerken. Raupen z. B. hoͤren auf zu freſſen, wenn ſie ſich einſpinnen, und daß gerade, wenn in der Puppe das Thier zum Schmetterlinge umgeſtaltet wird, eine aͤußere Ernaͤhrung gar nicht weiter Statt findet, iſt be- kannt; eben ſo freſſen Voͤgel in der Mauſe weniger u. ſ. w.
§. 256.
Finden wir nun zur Zeit der Entwicklungsperiode aͤhn- liche Erſcheinungen im Menſchen, ſo ſind wir gewiß nicht berechtigt, dieſelben, ihrer Unmoͤglichkeit wegen, ſtets fuͤr abſichtliche Betruͤgerey zu erklaͤren, und wenn gleich in meh- rern Faͤllen theils in Folge unvorſichtigen aͤrztlichen Beneh- mens, theils durch gleichzeitig erwachte Eitelkeit der Kran- ken (ſ. §. 236.) Uebertreibungen der Thatſachen Statt ge-
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wurde, und allerdings gerade wegen der uͤberhaupt thaͤtigern
Reproduktion hier weniger uͤberraſchend, ja im Allgemeinen
wohl nicht ſo unbegreiflich ſcheinen kann, als man großen-
theils glaubt. Der Koͤrper naͤmlich, deſſen Exiſtenz nur
eben in einer ſtaͤten Verwandlung, in einem ſtaͤten Wechſel
von Aufnahme und Zerſtoͤrung beſteht, hat zwey Wege, dieſe
Exiſtenz zu ſichern, entweder die Aſſimilation zu erhoͤhen,
oder die Exkretion zu mindern, durch den Stand welcher
Faktoren ſich denn viele Erſcheinungen erklaͤren laſſen. So
ſehen wir in acuten Krankheiten oft bey Hemmung ſo vieler
Lebensaͤußerungen auch dieſen Stoffwechſel ſehr zuruͤckgetreten
und die Exiſtenz durch eine aͤußerſt geringe Stoffaufnahme
lange Zeit unterhalten, mit welcher immer noch die, wenn
auch oft ſehr merkliche Stoffabnahme des Koͤrpers in keinem
Verhaͤltniſſe ſteht; ſo finden wir auch bey vielen Thieren
(z. B. Amphibien und Fiſchen) eine lange Lebensdauer ohne
merkliche Stoffaufnahme unſchwer moͤglich, und daß dieß
ganz beſonders waͤhrend der Entwicklungsperioden vorkomme,
ſcheint in der Natur des Organismus begruͤndet, welcher hier
(eben ſo wie in Krankheiten, deren Ganzes immer wieder
als organiſche Entwicklung betrachtet werden muß) zu ſehr
in ſich beſchaͤftigt iſt, und dadurch in ſchwaͤchere Wechſel-
wirkung mit der Außenwelt tritt, weßhalb wir vorzuͤglich
an Thieren, wenn ſie ſich verwandeln, eine ſehr verminderte
Nahrungsaufnahme bemerken. Raupen z. B. hoͤren auf zu
freſſen, wenn ſie ſich einſpinnen, und daß gerade, wenn in der
Puppe das Thier zum Schmetterlinge umgeſtaltet wird, eine
aͤußere Ernaͤhrung gar nicht weiter Statt findet, iſt be-
kannt; eben ſo freſſen Voͤgel in der Mauſe weniger u. ſ. w.
§. 256.
Finden wir nun zur Zeit der Entwicklungsperiode aͤhn-
liche Erſcheinungen im Menſchen, ſo ſind wir gewiß nicht
berechtigt, dieſelben, ihrer Unmoͤglichkeit wegen, ſtets fuͤr
abſichtliche Betruͤgerey zu erklaͤren, und wenn gleich in meh-
rern Faͤllen theils in Folge unvorſichtigen aͤrztlichen Beneh-
mens, theils durch gleichzeitig erwachte Eitelkeit der Kran-
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/216>, abgerufen am 24.11.2024.
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