funden haben, so sind doch theils diese Fälle selbst *) theils andere **) Beweis genug, daß der weibliche Körper in ge- wissen Stimmungen wirklich mit außerordentlich geringer Nahrung lange Zeit ausreichen könne. -- Weit seltner hin- gegen, und nur in Folge außerordentlicher Umänderungen der Organisation, wird das Hemmen der Athmungsfunktion der Lungen beobachtet, wohin der von H. Osiander angeführte Tacconi'sche Fall gehört, wo ein Mädchen, nachdem es im fünften Jahre einen Sturz aus dem Fenster erlitten (also doch wahrscheinlich eine heftige Hirnerschütterung Statt ge- funden hatte), 10 Jahre lang ohne alles bemerkliche Athem- holen (die Athmungsbewegung hängt bekanntlich im hohen Grade vom Gehirn ab) zugebracht, und also ohne kleinen Kreislauf (demnach auf bloße Hautrespiration beschränkt) ge- lebt hatte ***). Eine Erscheinung, welche indeß, wenn wir das überhaupt geringere Athmungsbedürfniß im weiblichen Geschlecht (§. 59.) ausnehmen, doch in zu entfernter Ver- bindung mit der Geschlechtseigenthümlichkeit steht um weitere Erörterungen darüber hier zu erlauben.
§. 257.
Wir kommen nun, nachdem wir eine Schilderung die- ser mannigfaltigen, sonderbaren, vom Nervenleben ausgehen- den, oder in ihm sich vorzüglich äußernden Entwicklungskrank- heiten gegeben haben, zu einem sehr schwierigen Punkte, nämlich zu der Lehre von der Behandlung derselben. Es ist aber hier beynahe derselbe Fall, wie in der Behand- lung der Gemüthskrankheiten und Geistesverirrungen über- haupt, wo durch die dunkeln Vorstellungen vom Verhältniß
*) S. Osiander über d. Entwicklungskrankheiten. 1r Thl. S. 188.
**) So erzählt Adair in seinem philosoph. medicin. Abriß d. Natur- geschichte d. Menschen, aus d. Engl. übers. v. Michaelis. 1788. S. 195. das Beyspiel einer gewissen Johanna Naunton, welche 87 Tage ohne alle Nahrung, außer etwas Limoniensaft von Zeit zu Zeit, zubrachte, so wie den Fall einer Schwindsüchtigen, welche 35 Tage blos von Wasser, mit einigen Tropfen Spiritus nitri dulcis vermischt, lebte.
***) S. Osiander a. a. O. S. 187.
funden haben, ſo ſind doch theils dieſe Faͤlle ſelbſt *) theils andere **) Beweis genug, daß der weibliche Koͤrper in ge- wiſſen Stimmungen wirklich mit außerordentlich geringer Nahrung lange Zeit ausreichen koͤnne. — Weit ſeltner hin- gegen, und nur in Folge außerordentlicher Umaͤnderungen der Organiſation, wird das Hemmen der Athmungsfunktion der Lungen beobachtet, wohin der von H. Oſiander angefuͤhrte Tacconi’ſche Fall gehoͤrt, wo ein Maͤdchen, nachdem es im fuͤnften Jahre einen Sturz aus dem Fenſter erlitten (alſo doch wahrſcheinlich eine heftige Hirnerſchuͤtterung Statt ge- funden hatte), 10 Jahre lang ohne alles bemerkliche Athem- holen (die Athmungsbewegung haͤngt bekanntlich im hohen Grade vom Gehirn ab) zugebracht, und alſo ohne kleinen Kreislauf (demnach auf bloße Hautreſpiration beſchraͤnkt) ge- lebt hatte ***). Eine Erſcheinung, welche indeß, wenn wir das uͤberhaupt geringere Athmungsbeduͤrfniß im weiblichen Geſchlecht (§. 59.) ausnehmen, doch in zu entfernter Ver- bindung mit der Geſchlechtseigenthuͤmlichkeit ſteht um weitere Eroͤrterungen daruͤber hier zu erlauben.
§. 257.
Wir kommen nun, nachdem wir eine Schilderung die- ſer mannigfaltigen, ſonderbaren, vom Nervenleben ausgehen- den, oder in ihm ſich vorzuͤglich aͤußernden Entwicklungskrank- heiten gegeben haben, zu einem ſehr ſchwierigen Punkte, naͤmlich zu der Lehre von der Behandlung derſelben. Es iſt aber hier beynahe derſelbe Fall, wie in der Behand- lung der Gemuͤthskrankheiten und Geiſtesverirrungen uͤber- haupt, wo durch die dunkeln Vorſtellungen vom Verhaͤltniß
*) S. Oſiander uͤber d. Entwicklungskrankheiten. 1r Thl. S. 188.
**) So erzaͤhlt Adair in ſeinem philoſoph. medicin. Abriß d. Natur- geſchichte d. Menſchen, aus d. Engl. uͤberſ. v. Michaelis. 1788. S. 195. das Beyſpiel einer gewiſſen Johanna Naunton, welche 87 Tage ohne alle Nahrung, außer etwas Limonienſaft von Zeit zu Zeit, zubrachte, ſo wie den Fall einer Schwindſuͤchtigen, welche 35 Tage blos von Waſſer, mit einigen Tropfen Spiritus nitri dulcis vermiſcht, lebte.
***) S. Oſiander a. a. O. S. 187.
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andere **) Beweis genug, daß der weibliche Koͤrper in ge-
wiſſen Stimmungen wirklich mit außerordentlich geringer
Nahrung lange Zeit ausreichen koͤnne. — Weit ſeltner hin-
gegen, und nur in Folge außerordentlicher Umaͤnderungen der
Organiſation, wird das Hemmen der Athmungsfunktion der
Lungen beobachtet, wohin der von H. Oſiander angefuͤhrte
Tacconi’ſche Fall gehoͤrt, wo ein Maͤdchen, nachdem es
im fuͤnften Jahre einen Sturz aus dem Fenſter erlitten (alſo
doch wahrſcheinlich eine heftige Hirnerſchuͤtterung Statt ge-
funden hatte), 10 Jahre lang ohne alles bemerkliche Athem-
holen (die Athmungsbewegung haͤngt bekanntlich im hohen
Grade vom Gehirn ab) zugebracht, und alſo ohne kleinen
Kreislauf (demnach auf bloße Hautreſpiration beſchraͤnkt) ge-
lebt hatte ***). Eine Erſcheinung, welche indeß, wenn wir
das uͤberhaupt geringere Athmungsbeduͤrfniß im weiblichen
Geſchlecht (§. 59.) ausnehmen, doch in zu entfernter Ver-
bindung mit der Geſchlechtseigenthuͤmlichkeit ſteht
um weitere Eroͤrterungen daruͤber hier zu erlauben.
§. 257.
Wir kommen nun, nachdem wir eine Schilderung die-
ſer mannigfaltigen, ſonderbaren, vom Nervenleben ausgehen-
den, oder in ihm ſich vorzuͤglich aͤußernden Entwicklungskrank-
heiten gegeben haben, zu einem ſehr ſchwierigen Punkte,
naͤmlich zu der Lehre von der Behandlung derſelben.
Es iſt aber hier beynahe derſelbe Fall, wie in der Behand-
lung der Gemuͤthskrankheiten und Geiſtesverirrungen uͤber-
haupt, wo durch die dunkeln Vorſtellungen vom Verhaͤltniß
*) S. Oſiander uͤber d. Entwicklungskrankheiten. 1r Thl. S. 188.
**) So erzaͤhlt Adair in ſeinem philoſoph. medicin. Abriß d. Natur-
geſchichte d. Menſchen, aus d. Engl. uͤberſ. v. Michaelis. 1788.
S. 195. das Beyſpiel einer gewiſſen Johanna Naunton, welche 87
Tage ohne alle Nahrung, außer etwas Limonienſaft von Zeit zu
Zeit, zubrachte, ſo wie den Fall einer Schwindſuͤchtigen, welche 35
Tage blos von Waſſer, mit einigen Tropfen Spiritus nitri dulcis
vermiſcht, lebte.
***) S. Oſiander a. a. O. S. 187.
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/217>, abgerufen am 16.02.2025.
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