Lebens angehören, und daher auch nicht (wie dieß Andere gern hätten behaupten mögen) über den Zustand des natür- lichen Wachens gesetzt zu werden verdienen. Wenn dieß nun aber anerkannt ist, so erscheint dagegen die eigentliche Heilkraft dieser Zustände weit mehr in Zweifel gezogen, und wenn sich nun aus dem Vergleich einer Anzahl von Krankheitsfällen, durch Magnetismus behandelt, allerdings ergiebt, daß erstens die Kuren sämmtlich ungewöhnlich lange Zeit, oft ein und mehrere Jahre dauerten, zweitens die Krankheiten oft nur augenblicklich in ihren auffallendsten Symptomen gemäßigt wurden, übrigens aber oft ganz im alten Zustande blieben, manche Krankheiten wohl auch ver- schlimmert, wenige aber wahrhaft geheilt wurden, so müßte gewiß das Zutrauen zu diesem Mittel sehr erschüttert werden, wenn wir nicht zugleich die Ursachen, welche das Nichtgelin- gen vieler magnetischer Kuren bedingen, berücksichtigen woll- ten. Es scheinen diese aber zu seyn: 1) nicht hinlängliche Beachtung der Indikation des Magnetismus. Jedes Arzney- mittel nämlich wirkt nur da, wo es nach wissenschaftlichen und Erfahrungsgrundsätzen wirklich angezeigt ist, allein bey dem Magnetismus hat man oft sehr wenig an Indikation oder Contraindikation gedacht, sondern bey Krankheitszustän- den, sie mochten Namen haben und Constitutionen betreffen, welche sie wollten, aufs gerathewohl, namentlich wenn etwa einige andere Kurmethoden ohne Erfolg geblieben waren, magne- tisirt, und zwar wohl aus dem schwer zu vertheidigenden Grunde, weil der Magnetismus ein Universalmittel sey. 2) Hat man zu viel Fremdartiges den Kuren beygemischt, die Erscheinun- gen des Schlafwachens nur hervorzubringen getrachtet, um seine Neugierde an den sonderbaren Aeußerungen der Kranken zu befriedigen. 3) Ist man oft mit zu weniger, ja ohne alle ärztliche Kenntniß dabey zu Werke gegangen, und 4) endlich werden bey so langen Kuren oft andere Verhält- nisse, angeregte Neigungen zwischen Magnetiseur und der Magnetisirten, Gemüthsleiden, Fehler der Lebensordnung u. s. w. leicht irgend einmal vorkommen können, dann aber, wenn sie gerade einen entscheidenden Zeitpunkt treffen, wohl die Be- mühungen ganzer Monathe fruchtlos machen.
Lebens angehoͤren, und daher auch nicht (wie dieß Andere gern haͤtten behaupten moͤgen) uͤber den Zuſtand des natuͤr- lichen Wachens geſetzt zu werden verdienen. Wenn dieß nun aber anerkannt iſt, ſo erſcheint dagegen die eigentliche Heilkraft dieſer Zuſtaͤnde weit mehr in Zweifel gezogen, und wenn ſich nun aus dem Vergleich einer Anzahl von Krankheitsfaͤllen, durch Magnetismus behandelt, allerdings ergiebt, daß erſtens die Kuren ſaͤmmtlich ungewoͤhnlich lange Zeit, oft ein und mehrere Jahre dauerten, zweitens die Krankheiten oft nur augenblicklich in ihren auffallendſten Symptomen gemaͤßigt wurden, uͤbrigens aber oft ganz im alten Zuſtande blieben, manche Krankheiten wohl auch ver- ſchlimmert, wenige aber wahrhaft geheilt wurden, ſo muͤßte gewiß das Zutrauen zu dieſem Mittel ſehr erſchuͤttert werden, wenn wir nicht zugleich die Urſachen, welche das Nichtgelin- gen vieler magnetiſcher Kuren bedingen, beruͤckſichtigen woll- ten. Es ſcheinen dieſe aber zu ſeyn: 1) nicht hinlaͤngliche Beachtung der Indikation des Magnetismus. Jedes Arzney- mittel naͤmlich wirkt nur da, wo es nach wiſſenſchaftlichen und Erfahrungsgrundſaͤtzen wirklich angezeigt iſt, allein bey dem Magnetismus hat man oft ſehr wenig an Indikation oder Contraindikation gedacht, ſondern bey Krankheitszuſtaͤn- den, ſie mochten Namen haben und Conſtitutionen betreffen, welche ſie wollten, aufs gerathewohl, namentlich wenn etwa einige andere Kurmethoden ohne Erfolg geblieben waren, magne- tiſirt, und zwar wohl aus dem ſchwer zu vertheidigenden Grunde, weil der Magnetismus ein Univerſalmittel ſey. 2) Hat man zu viel Fremdartiges den Kuren beygemiſcht, die Erſcheinun- gen des Schlafwachens nur hervorzubringen getrachtet, um ſeine Neugierde an den ſonderbaren Aeußerungen der Kranken zu befriedigen. 3) Iſt man oft mit zu weniger, ja ohne alle aͤrztliche Kenntniß dabey zu Werke gegangen, und 4) endlich werden bey ſo langen Kuren oft andere Verhaͤlt- niſſe, angeregte Neigungen zwiſchen Magnetiſeur und der Magnetiſirten, Gemuͤthsleiden, Fehler der Lebensordnung u. ſ. w. leicht irgend einmal vorkommen koͤnnen, dann aber, wenn ſie gerade einen entſcheidenden Zeitpunkt treffen, wohl die Be- muͤhungen ganzer Monathe fruchtlos machen.
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Lebens angehoͤren, und daher auch nicht (wie dieß Andere
gern haͤtten behaupten moͤgen) uͤber den Zuſtand des natuͤr-
lichen Wachens geſetzt zu werden verdienen. Wenn dieß
nun aber anerkannt iſt, ſo erſcheint dagegen die eigentliche
Heilkraft dieſer Zuſtaͤnde weit mehr in Zweifel gezogen,
und wenn ſich nun aus dem Vergleich einer Anzahl von
Krankheitsfaͤllen, durch Magnetismus behandelt, allerdings
ergiebt, daß erſtens die Kuren ſaͤmmtlich ungewoͤhnlich lange
Zeit, oft ein und mehrere Jahre dauerten, zweitens die
Krankheiten oft nur augenblicklich in ihren auffallendſten
Symptomen gemaͤßigt wurden, uͤbrigens aber oft ganz im
alten Zuſtande blieben, manche Krankheiten wohl auch ver-
ſchlimmert, wenige aber wahrhaft geheilt wurden, ſo muͤßte
gewiß das Zutrauen zu dieſem Mittel ſehr erſchuͤttert werden,
wenn wir nicht zugleich die Urſachen, welche das Nichtgelin-
gen vieler magnetiſcher Kuren bedingen, beruͤckſichtigen woll-
ten. Es ſcheinen dieſe aber zu ſeyn: 1) nicht hinlaͤngliche
Beachtung der Indikation des Magnetismus. Jedes Arzney-
mittel naͤmlich wirkt nur da, wo es nach wiſſenſchaftlichen
und Erfahrungsgrundſaͤtzen wirklich angezeigt iſt, allein bey
dem Magnetismus hat man oft ſehr wenig an Indikation
oder Contraindikation gedacht, ſondern bey Krankheitszuſtaͤn-
den, ſie mochten Namen haben und Conſtitutionen betreffen,
welche ſie wollten, aufs gerathewohl, namentlich wenn etwa
einige andere Kurmethoden ohne Erfolg geblieben waren, magne-
tiſirt, und zwar wohl aus dem ſchwer zu vertheidigenden Grunde,
weil der Magnetismus ein Univerſalmittel ſey. 2) Hat man
zu viel Fremdartiges den Kuren beygemiſcht, die Erſcheinun-
gen des Schlafwachens nur hervorzubringen getrachtet, um
ſeine Neugierde an den ſonderbaren Aeußerungen der Kranken
zu befriedigen. 3) Iſt man oft mit zu weniger, ja ohne
alle aͤrztliche Kenntniß dabey zu Werke gegangen, und
4) endlich werden bey ſo langen Kuren oft andere Verhaͤlt-
niſſe, angeregte Neigungen zwiſchen Magnetiſeur und der
Magnetiſirten, Gemuͤthsleiden, Fehler der Lebensordnung u. ſ. w.
leicht irgend einmal vorkommen koͤnnen, dann aber, wenn ſie
gerade einen entſcheidenden Zeitpunkt treffen, wohl die Be-
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/232>, abgerufen am 21.11.2024.
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