zustellen; so glauben wir dieselben unter dem Namen der Gynäkologie*) schicklich vereinigen zu dürfen. Ohne dem- nach das Wort Gynäkologie in seiner weitesten Bedeutung zu nehmen (so wenig als wir dieß bey andern ähnlichen Wor- ten z. B. Physiologie zu thun gewohnt sind) definiren wir es als: die Lehre von der Eigenthümlichkeit des weiblichen Körpers, seinem Bau, seinem Le- ben, seinen Krankheiten und der ihm angemesse- nen so diätetischen als ärztlichen Behandlung nach.
§. 3.
So gewiß aber im Allgemeinen der volle Begriff eines Theiles nur erlangt wird aus der wohlaufgefaßten Idee des Ganzen, so unmöglich es z. B. seyn würde eine treue Vor- stellung vom Leben eines besondern Organs zu erhalten, ohne deutliche Ansicht des gesammten organischen Körpers, so un- zweckmäßig scheint es auch zu seyn, wenn die Geschichte ei- niger besondern Vorgänge des weiblichen Lebens aus dem Ganzen der Gynäkologie herausgerissen und als eine in sich beschlossene Lehre dargestellt werden soll. Demohnerachtet hat ein solches Verfahren rücksichtlich der Geburtshülfe bisher fast allgemein Statt gefunden, und wir werden leicht hierin den Grund davon erkennen können, daß eben die Geburtshülfe bisher einer strengern wissenschaftlichen Ordnung so sehr er- mangelte, ja sogar ihr Begriff von Verschiedenen auf so ver- schiedene Weise erfaßt wurde.
§. 4.
Streng genommen ist aber Entbindungskunde oder Ge- burtshülfe nur die Lehre von den Hülfsleistungen bey der Geburt, und doch, wer wird zu jeder dieser Hülfsleistungen geschickt seyn, wenn er nicht zugleich die Kenntniß der Schwan- gerschaft, des weiblichen Beckens und dergl. mit sich
*) Von gune, gunaikos Weib und logos Wort, Lehre.
zuſtellen; ſo glauben wir dieſelben unter dem Namen der Gynaͤkologie*) ſchicklich vereinigen zu duͤrfen. Ohne dem- nach das Wort Gynaͤkologie in ſeiner weiteſten Bedeutung zu nehmen (ſo wenig als wir dieß bey andern aͤhnlichen Wor- ten z. B. Phyſiologie zu thun gewohnt ſind) definiren wir es als: die Lehre von der Eigenthuͤmlichkeit des weiblichen Koͤrpers, ſeinem Bau, ſeinem Le- ben, ſeinen Krankheiten und der ihm angemeſſe- nen ſo diaͤtetiſchen als aͤrztlichen Behandlung nach.
§. 3.
So gewiß aber im Allgemeinen der volle Begriff eines Theiles nur erlangt wird aus der wohlaufgefaßten Idee des Ganzen, ſo unmoͤglich es z. B. ſeyn wuͤrde eine treue Vor- ſtellung vom Leben eines beſondern Organs zu erhalten, ohne deutliche Anſicht des geſammten organiſchen Koͤrpers, ſo un- zweckmaͤßig ſcheint es auch zu ſeyn, wenn die Geſchichte ei- niger beſondern Vorgaͤnge des weiblichen Lebens aus dem Ganzen der Gynaͤkologie herausgeriſſen und als eine in ſich beſchloſſene Lehre dargeſtellt werden ſoll. Demohnerachtet hat ein ſolches Verfahren ruͤckſichtlich der Geburtshuͤlfe bisher faſt allgemein Statt gefunden, und wir werden leicht hierin den Grund davon erkennen koͤnnen, daß eben die Geburtshuͤlfe bisher einer ſtrengern wiſſenſchaftlichen Ordnung ſo ſehr er- mangelte, ja ſogar ihr Begriff von Verſchiedenen auf ſo ver- ſchiedene Weiſe erfaßt wurde.
§. 4.
Streng genommen iſt aber Entbindungskunde oder Ge- burtshuͤlfe nur die Lehre von den Huͤlfsleiſtungen bey der Geburt, und doch, wer wird zu jeder dieſer Huͤlfsleiſtungen geſchickt ſeyn, wenn er nicht zugleich die Kenntniß der Schwan- gerſchaft, des weiblichen Beckens und dergl. mit ſich
*) Von γυνη, γυναικος Weib und λογος Wort, Lehre.
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zuſtellen; ſo glauben wir dieſelben unter dem Namen der
Gynaͤkologie *) ſchicklich vereinigen zu duͤrfen. Ohne dem-
nach das Wort Gynaͤkologie in ſeiner weiteſten Bedeutung
zu nehmen (ſo wenig als wir dieß bey andern aͤhnlichen Wor-
ten z. B. Phyſiologie zu thun gewohnt ſind) definiren
wir es als: die Lehre von der Eigenthuͤmlichkeit
des weiblichen Koͤrpers, ſeinem Bau, ſeinem Le-
ben, ſeinen Krankheiten und der ihm angemeſſe-
nen ſo diaͤtetiſchen als aͤrztlichen Behandlung
nach.
§. 3.
So gewiß aber im Allgemeinen der volle Begriff eines
Theiles nur erlangt wird aus der wohlaufgefaßten Idee des
Ganzen, ſo unmoͤglich es z. B. ſeyn wuͤrde eine treue Vor-
ſtellung vom Leben eines beſondern Organs zu erhalten, ohne
deutliche Anſicht des geſammten organiſchen Koͤrpers, ſo un-
zweckmaͤßig ſcheint es auch zu ſeyn, wenn die Geſchichte ei-
niger beſondern Vorgaͤnge des weiblichen Lebens aus dem
Ganzen der Gynaͤkologie herausgeriſſen und als eine in ſich
beſchloſſene Lehre dargeſtellt werden ſoll. Demohnerachtet hat
ein ſolches Verfahren ruͤckſichtlich der Geburtshuͤlfe bisher faſt
allgemein Statt gefunden, und wir werden leicht hierin den
Grund davon erkennen koͤnnen, daß eben die Geburtshuͤlfe
bisher einer ſtrengern wiſſenſchaftlichen Ordnung ſo ſehr er-
mangelte, ja ſogar ihr Begriff von Verſchiedenen auf ſo ver-
ſchiedene Weiſe erfaßt wurde.
§. 4.
Streng genommen iſt aber Entbindungskunde oder Ge-
burtshuͤlfe nur die Lehre von den Huͤlfsleiſtungen bey der
Geburt, und doch, wer wird zu jeder dieſer Huͤlfsleiſtungen
geſchickt ſeyn, wenn er nicht zugleich die Kenntniß der Schwan-
gerſchaft, des weiblichen Beckens und dergl. mit ſich
*) Von γυνη, γυναικος Weib und λογος Wort, Lehre.
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/24>, abgerufen am 21.11.2024.
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