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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820.

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bringt? -- welcher Geburtshelfer wird den an ihn gemachten
Anforderungen entsprechen können, dafern er nicht vom nor-
malen und abnormen Verlauf des Wochenbetts eine naturge-
mäße Ansicht sich erworben hat? -- und wie endlich, kön-
nen alle diese merkwürdigen Vorgänge des weiblichen Lebens
begriffen werden ohne Erlangung einer klaren Idee vom We-
sen und Charakter des weiblichen Körpers überhaupt?

§. 5.

Diese Bedürfnisse fühlend wurde nun das System der
Geburtshülfe oft ein Aggregat der heterogensten Bestandtheile.
Von einem Verfasser wurden ausführlichere anatomische Be-
schreibungen mit aufgenommen, von einem Andern die Krank-
heiten der Wöchnerinnen zugleich mit abgehandelt, von einem
Dritten blos die Geschichte normaler und abnormer Geburten
mit den nöthigen Vorkenntnissen aus der Schwangerschafts-
lehre durchgegangen und die Beschreibung der geburtshülflichen
Operationen beigefügt, wieder andere wollten sie blos auf
Kenntniß mechanischer Hülfsleistungen beschränken u. s. w.,
kurz man ließ weg, setzte zu, richtete ein, alles nach Will-
kühr, und wenn auch bey so verschiedenen Richtungen die
Kunst im Ganzen bedeutend gefördert wurde und das Fort-
schreiten der Physiologie auch auf manche Punkte dieser Dis-
ciplin ein helleres Licht warf, so äußerte sich doch noch im
Innern der Mangel wahrer wissenschaftlicher Gesetzmätzigkeit,
ein Mangel welcher so lange gefühlt werden wird, als man
etwas, das, gleich der Geburtshülfe, nur Fragment eines
größern Ganzen ist, als ein für sich Bestehendes aufstellen will.

§. 6.

Bereits haben zwar mehrere scharfsinnige Gelehrte in
diesem Fach das Unvollständige der Geburtshülfe durch Aus-
arbeitung eigener Schriften über die Krankheiten des weibli-
chen Geschlechts zu ergänzen, und so aus diesen beiden Thei-
len ein geordnetes Ganze zu schaffen gesucht; allein selbst
diese Trennung scheint noch zu gewaltsam, da in der Natur

bringt? — welcher Geburtshelfer wird den an ihn gemachten
Anforderungen entſprechen koͤnnen, dafern er nicht vom nor-
malen und abnormen Verlauf des Wochenbetts eine naturge-
maͤße Anſicht ſich erworben hat? — und wie endlich, koͤn-
nen alle dieſe merkwuͤrdigen Vorgaͤnge des weiblichen Lebens
begriffen werden ohne Erlangung einer klaren Idee vom We-
ſen und Charakter des weiblichen Koͤrpers uͤberhaupt?

§. 5.

Dieſe Beduͤrfniſſe fuͤhlend wurde nun das Syſtem der
Geburtshuͤlfe oft ein Aggregat der heterogenſten Beſtandtheile.
Von einem Verfaſſer wurden ausfuͤhrlichere anatomiſche Be-
ſchreibungen mit aufgenommen, von einem Andern die Krank-
heiten der Woͤchnerinnen zugleich mit abgehandelt, von einem
Dritten blos die Geſchichte normaler und abnormer Geburten
mit den noͤthigen Vorkenntniſſen aus der Schwangerſchafts-
lehre durchgegangen und die Beſchreibung der geburtshuͤlflichen
Operationen beigefuͤgt, wieder andere wollten ſie blos auf
Kenntniß mechaniſcher Huͤlfsleiſtungen beſchraͤnken u. ſ. w.,
kurz man ließ weg, ſetzte zu, richtete ein, alles nach Will-
kuͤhr, und wenn auch bey ſo verſchiedenen Richtungen die
Kunſt im Ganzen bedeutend gefoͤrdert wurde und das Fort-
ſchreiten der Phyſiologie auch auf manche Punkte dieſer Dis-
ciplin ein helleres Licht warf, ſo aͤußerte ſich doch noch im
Innern der Mangel wahrer wiſſenſchaftlicher Geſetzmaͤtzigkeit,
ein Mangel welcher ſo lange gefuͤhlt werden wird, als man
etwas, das, gleich der Geburtshuͤlfe, nur Fragment eines
groͤßern Ganzen iſt, als ein fuͤr ſich Beſtehendes aufſtellen will.

§. 6.

Bereits haben zwar mehrere ſcharfſinnige Gelehrte in
dieſem Fach das Unvollſtaͤndige der Geburtshuͤlfe durch Aus-
arbeitung eigener Schriften uͤber die Krankheiten des weibli-
chen Geſchlechts zu ergaͤnzen, und ſo aus dieſen beiden Thei-
len ein geordnetes Ganze zu ſchaffen geſucht; allein ſelbſt
dieſe Trennung ſcheint noch zu gewaltſam, da in der Natur

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[5/0025] bringt? — welcher Geburtshelfer wird den an ihn gemachten Anforderungen entſprechen koͤnnen, dafern er nicht vom nor- malen und abnormen Verlauf des Wochenbetts eine naturge- maͤße Anſicht ſich erworben hat? — und wie endlich, koͤn- nen alle dieſe merkwuͤrdigen Vorgaͤnge des weiblichen Lebens begriffen werden ohne Erlangung einer klaren Idee vom We- ſen und Charakter des weiblichen Koͤrpers uͤberhaupt? §. 5. Dieſe Beduͤrfniſſe fuͤhlend wurde nun das Syſtem der Geburtshuͤlfe oft ein Aggregat der heterogenſten Beſtandtheile. Von einem Verfaſſer wurden ausfuͤhrlichere anatomiſche Be- ſchreibungen mit aufgenommen, von einem Andern die Krank- heiten der Woͤchnerinnen zugleich mit abgehandelt, von einem Dritten blos die Geſchichte normaler und abnormer Geburten mit den noͤthigen Vorkenntniſſen aus der Schwangerſchafts- lehre durchgegangen und die Beſchreibung der geburtshuͤlflichen Operationen beigefuͤgt, wieder andere wollten ſie blos auf Kenntniß mechaniſcher Huͤlfsleiſtungen beſchraͤnken u. ſ. w., kurz man ließ weg, ſetzte zu, richtete ein, alles nach Will- kuͤhr, und wenn auch bey ſo verſchiedenen Richtungen die Kunſt im Ganzen bedeutend gefoͤrdert wurde und das Fort- ſchreiten der Phyſiologie auch auf manche Punkte dieſer Dis- ciplin ein helleres Licht warf, ſo aͤußerte ſich doch noch im Innern der Mangel wahrer wiſſenſchaftlicher Geſetzmaͤtzigkeit, ein Mangel welcher ſo lange gefuͤhlt werden wird, als man etwas, das, gleich der Geburtshuͤlfe, nur Fragment eines groͤßern Ganzen iſt, als ein fuͤr ſich Beſtehendes aufſtellen will. §. 6. Bereits haben zwar mehrere ſcharfſinnige Gelehrte in dieſem Fach das Unvollſtaͤndige der Geburtshuͤlfe durch Aus- arbeitung eigener Schriften uͤber die Krankheiten des weibli- chen Geſchlechts zu ergaͤnzen, und ſo aus dieſen beiden Thei- len ein geordnetes Ganze zu ſchaffen geſucht; allein ſelbſt dieſe Trennung ſcheint noch zu gewaltſam, da in der Natur

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/25>, abgerufen am 21.11.2024.