I.Von der Persönlichkeit des Frauenarztes und Geburtshelfers.
§. 84.
Von einem jeden, der helfend und heilend auftreten will, fordert man mit Recht noch außer den genügenden Kenntnissen und Fertigkeiten eine gesunde kräftige Individua- lität, innere Sicherheit, Gegenwart des Geistes, Schärfe sinnlicher Wahrnehmungen, Rechtlichkeit und Milde in seinem Handeln. Auch der Frauenarzt und Geburtshelfer muß da- her mit solchen Eigenschaften ausgestattet seyn, wenn er sei- nen Beruf würdig erfüllen soll, ja er muß es um so mehr, da das weibliche Geschlecht einen sehr feinen Sinn für männ- lichen Werth zu besitzen pflegt, und ihm leicht das Ver- trauen, und mit ihm eine so wesentliche Bedingung der Hei- lung schwinden wird, wenn ein unsicheres, schwankendes oder wohl gar unschickliches Benehmen, Mangel eines wohlgegrün- deten Selbstvertrauens errathen läßt. Außerdem ist jedoch noch anzumerken, daß, wie namentlich die Entbindungskunst bey ihrer Ausübung mit so vielen Schwierigkeiten und An- strengungen verknüpft ist, auch ebendeßhalb von dem sich ih- rer Ausübung Widmenden eine vorzüglich dauerhafte Gesund- heit, kräftige obwohl nicht allzuvöllige Bildung des Körpers, insbesondere aber kräftige, schlank- und wohlgebildete Arme und Hände so wie feinfühlende Finger erfordert werden; Er- fordernisse, welche auf längere Zeit nur erhalten werden können durch eine sorgfältige, allen Ausschweifungen und Unmäßigkeiten absagende zweckmäßige Lebensordnung und wohl- geordnete Kultur und Uebung der Glieder.
§. 85.
Obwohl nun der Arzt mit diesen physischen und den obenerwähnten psychischen Eigenthümlichkeiten begabt, schwer- lich die rechte Art des Benehmens gegen weibliche Kranke verfehlen wird, und wir gern ein kleinliches Savoir faire der Nation überlassen, welche auf Aeußerliches so streng hal- tend dieses unübersetzbare Wort gebildet hat (um so mehr, da durch ähnliche Kunstgriffe wohl oft ein gewöhnlicher Rou-
I.Von der Perſoͤnlichkeit des Frauenarztes und Geburtshelfers.
§. 84.
Von einem jeden, der helfend und heilend auftreten will, fordert man mit Recht noch außer den genuͤgenden Kenntniſſen und Fertigkeiten eine geſunde kraͤftige Individua- litaͤt, innere Sicherheit, Gegenwart des Geiſtes, Schaͤrfe ſinnlicher Wahrnehmungen, Rechtlichkeit und Milde in ſeinem Handeln. Auch der Frauenarzt und Geburtshelfer muß da- her mit ſolchen Eigenſchaften ausgeſtattet ſeyn, wenn er ſei- nen Beruf wuͤrdig erfuͤllen ſoll, ja er muß es um ſo mehr, da das weibliche Geſchlecht einen ſehr feinen Sinn fuͤr maͤnn- lichen Werth zu beſitzen pflegt, und ihm leicht das Ver- trauen, und mit ihm eine ſo weſentliche Bedingung der Hei- lung ſchwinden wird, wenn ein unſicheres, ſchwankendes oder wohl gar unſchickliches Benehmen, Mangel eines wohlgegruͤn- deten Selbſtvertrauens errathen laͤßt. Außerdem iſt jedoch noch anzumerken, daß, wie namentlich die Entbindungskunſt bey ihrer Ausuͤbung mit ſo vielen Schwierigkeiten und An- ſtrengungen verknuͤpft iſt, auch ebendeßhalb von dem ſich ih- rer Ausuͤbung Widmenden eine vorzuͤglich dauerhafte Geſund- heit, kraͤftige obwohl nicht allzuvoͤllige Bildung des Koͤrpers, insbeſondere aber kraͤftige, ſchlank- und wohlgebildete Arme und Haͤnde ſo wie feinfuͤhlende Finger erfordert werden; Er- forderniſſe, welche auf laͤngere Zeit nur erhalten werden koͤnnen durch eine ſorgfaͤltige, allen Ausſchweifungen und Unmaͤßigkeiten abſagende zweckmaͤßige Lebensordnung und wohl- geordnete Kultur und Uebung der Glieder.
§. 85.
Obwohl nun der Arzt mit dieſen phyſiſchen und den obenerwaͤhnten pſychiſchen Eigenthuͤmlichkeiten begabt, ſchwer- lich die rechte Art des Benehmens gegen weibliche Kranke verfehlen wird, und wir gern ein kleinliches Savoir faire der Nation uͤberlaſſen, welche auf Aeußerliches ſo ſtreng hal- tend dieſes unuͤberſetzbare Wort gebildet hat (um ſo mehr, da durch aͤhnliche Kunſtgriffe wohl oft ein gewoͤhnlicher Rou-
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I. Von der Perſoͤnlichkeit des Frauenarztes
und Geburtshelfers.
§. 84.
Von einem jeden, der helfend und heilend auftreten
will, fordert man mit Recht noch außer den genuͤgenden
Kenntniſſen und Fertigkeiten eine geſunde kraͤftige Individua-
litaͤt, innere Sicherheit, Gegenwart des Geiſtes, Schaͤrfe
ſinnlicher Wahrnehmungen, Rechtlichkeit und Milde in ſeinem
Handeln. Auch der Frauenarzt und Geburtshelfer muß da-
her mit ſolchen Eigenſchaften ausgeſtattet ſeyn, wenn er ſei-
nen Beruf wuͤrdig erfuͤllen ſoll, ja er muß es um ſo mehr,
da das weibliche Geſchlecht einen ſehr feinen Sinn fuͤr maͤnn-
lichen Werth zu beſitzen pflegt, und ihm leicht das Ver-
trauen, und mit ihm eine ſo weſentliche Bedingung der Hei-
lung ſchwinden wird, wenn ein unſicheres, ſchwankendes oder
wohl gar unſchickliches Benehmen, Mangel eines wohlgegruͤn-
deten Selbſtvertrauens errathen laͤßt. Außerdem iſt jedoch
noch anzumerken, daß, wie namentlich die Entbindungskunſt
bey ihrer Ausuͤbung mit ſo vielen Schwierigkeiten und An-
ſtrengungen verknuͤpft iſt, auch ebendeßhalb von dem ſich ih-
rer Ausuͤbung Widmenden eine vorzuͤglich dauerhafte Geſund-
heit, kraͤftige obwohl nicht allzuvoͤllige Bildung des Koͤrpers,
insbeſondere aber kraͤftige, ſchlank- und wohlgebildete Arme
und Haͤnde ſo wie feinfuͤhlende Finger erfordert werden; Er-
forderniſſe, welche auf laͤngere Zeit nur erhalten werden
koͤnnen durch eine ſorgfaͤltige, allen Ausſchweifungen und
Unmaͤßigkeiten abſagende zweckmaͤßige Lebensordnung und wohl-
geordnete Kultur und Uebung der Glieder.
§. 85.
Obwohl nun der Arzt mit dieſen phyſiſchen und den
obenerwaͤhnten pſychiſchen Eigenthuͤmlichkeiten begabt, ſchwer-
lich die rechte Art des Benehmens gegen weibliche Kranke
verfehlen wird, und wir gern ein kleinliches Savoir faire
der Nation uͤberlaſſen, welche auf Aeußerliches ſo ſtreng hal-
tend dieſes unuͤberſetzbare Wort gebildet hat (um ſo mehr,
da durch aͤhnliche Kunſtgriffe wohl oft ein gewoͤhnlicher Rou-
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/82>, abgerufen am 21.11.2024.
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