Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 2. Leipzig, 1820.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht eben viel leichter erklären laßen würde. -- Uebri-
gens sind Nerven und Nerventhätigkeit Produkte der orga-
nischen Einheit aber nicht etwa die einzigen Ursachen der-
selben, und es bedarf daher der Nerven keineswegs unum-
gänglich nothwendig zur Uebertragung gewißer Empfindungen;
wie dieß bekannte Erscheinungen beweisen, (man erinnere sich
nur an das sogenannte Stumpfwerden der Zähne, an die bei
Krankheiten eintretenden heftigen Knochenschmerzen, Schmer-
zen der Haare u. s. w.) Auf jeden Fall könnte daher wohl,
daß das Kind und die Mutter hier noch ein Organismus
sind, die Frucht nur in der, und durch die Mutter lebt,
mehr gelten zur Erklärung der Sympathie zwischen beiden,
als das Vorhandenseyn einiger Nervenfädchen. Daß endlich
man auch darauf sich bezogen hat, daß im Fetus selbst noch
keine Nerventhätigkeit vorhanden sey, und er deshalb schon
keine Vorstellungen und Empfindungen vom mütterlichen Kör-
per aufnehmen könne, beruht auf einer unerwiesenen Voraus-
setzung. Nerventhätigkeit wird nämlich ja doch selbst zu den
willkührlosen Bewegungen des Fetus mit erfordert, und wenn
wir zugeben daß höhere Seelenthätigkeit im Fetus noch in
tiefem Schlafe befangen sey, so bleiben doch von einem sol-
chen Schlafe traumähnliche Vorstellungen nicht nothwendig
ausgeschlossen (vergl. damit die zu Ende §. 740. aufgeführte
Bemerkung.)

§. 1123.

Ueberhaupt aber können Gründe a priori in Ausmitte-
lung einer Naturerscheinung dieser Art wenig Gewicht haben,
sondern es kommt darauf an, das Faktum außer
Zweifel zu setzen
. -- Alles was Vernunftgesetzen nicht
widerstreitet, müßen wir nämlich für möglich erklären, und
es ist ein eben so oft begangener Irrthum, Dinge welche un-
serm Stande geistiger Entwickelung noch nicht erklärlich schei-
nen, für unmöglich zu halten, als hinwiederum man oft
geirrt hat, indem man halb oder gar nicht beobachtete Er-
scheinungen schon für Thatsachen erklärte; allein welche Mög-
lichkeit in dem Kreise uns vorliegender Naturerscheinungen

nicht eben viel leichter erklaͤren laßen wuͤrde. — Uebri-
gens ſind Nerven und Nerventhaͤtigkeit Produkte der orga-
niſchen Einheit aber nicht etwa die einzigen Urſachen der-
ſelben, und es bedarf daher der Nerven keineswegs unum-
gaͤnglich nothwendig zur Uebertragung gewißer Empfindungen;
wie dieß bekannte Erſcheinungen beweiſen, (man erinnere ſich
nur an das ſogenannte Stumpfwerden der Zaͤhne, an die bei
Krankheiten eintretenden heftigen Knochenſchmerzen, Schmer-
zen der Haare u. ſ. w.) Auf jeden Fall koͤnnte daher wohl,
daß das Kind und die Mutter hier noch ein Organismus
ſind, die Frucht nur in der, und durch die Mutter lebt,
mehr gelten zur Erklaͤrung der Sympathie zwiſchen beiden,
als das Vorhandenſeyn einiger Nervenfaͤdchen. Daß endlich
man auch darauf ſich bezogen hat, daß im Fetus ſelbſt noch
keine Nerventhaͤtigkeit vorhanden ſey, und er deshalb ſchon
keine Vorſtellungen und Empfindungen vom muͤtterlichen Koͤr-
per aufnehmen koͤnne, beruht auf einer unerwieſenen Voraus-
ſetzung. Nerventhaͤtigkeit wird naͤmlich ja doch ſelbſt zu den
willkuͤhrloſen Bewegungen des Fetus mit erfordert, und wenn
wir zugeben daß hoͤhere Seelenthaͤtigkeit im Fetus noch in
tiefem Schlafe befangen ſey, ſo bleiben doch von einem ſol-
chen Schlafe traumaͤhnliche Vorſtellungen nicht nothwendig
ausgeſchloſſen (vergl. damit die zu Ende §. 740. aufgefuͤhrte
Bemerkung.)

§. 1123.

Ueberhaupt aber koͤnnen Gruͤnde a priori in Ausmitte-
lung einer Naturerſcheinung dieſer Art wenig Gewicht haben,
ſondern es kommt darauf an, das Faktum außer
Zweifel zu ſetzen
. — Alles was Vernunftgeſetzen nicht
widerſtreitet, muͤßen wir naͤmlich fuͤr moͤglich erklaͤren, und
es iſt ein eben ſo oft begangener Irrthum, Dinge welche un-
ſerm Stande geiſtiger Entwickelung noch nicht erklaͤrlich ſchei-
nen, fuͤr unmoͤglich zu halten, als hinwiederum man oft
geirrt hat, indem man halb oder gar nicht beobachtete Er-
ſcheinungen ſchon fuͤr Thatſachen erklaͤrte; allein welche Moͤg-
lichkeit in dem Kreiſe uns vorliegender Naturerſcheinungen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0304" n="280"/>
nicht eben viel leichter erkla&#x0364;ren laßen wu&#x0364;rde. &#x2014; Uebri-<lb/>
gens &#x017F;ind Nerven und Nerventha&#x0364;tigkeit <hi rendition="#g">Produkte</hi> der orga-<lb/>
ni&#x017F;chen Einheit aber nicht etwa die einzigen <hi rendition="#g">Ur&#x017F;achen</hi> der-<lb/>
&#x017F;elben, und es bedarf daher der Nerven keineswegs unum-<lb/>
ga&#x0364;nglich nothwendig zur Uebertragung gewißer Empfindungen;<lb/>
wie dieß bekannte Er&#x017F;cheinungen bewei&#x017F;en, (man erinnere &#x017F;ich<lb/>
nur an das &#x017F;ogenannte Stumpfwerden der Za&#x0364;hne, an die bei<lb/>
Krankheiten eintretenden heftigen Knochen&#x017F;chmerzen, Schmer-<lb/>
zen der Haare u. &#x017F;. w.) Auf jeden Fall ko&#x0364;nnte daher wohl,<lb/>
daß das Kind und die Mutter hier noch <hi rendition="#g">ein Organismus</hi><lb/>
&#x017F;ind, die Frucht nur in der, und durch die Mutter lebt,<lb/><hi rendition="#g">mehr</hi> gelten zur Erkla&#x0364;rung der Sympathie zwi&#x017F;chen beiden,<lb/>
als das Vorhanden&#x017F;eyn einiger Nervenfa&#x0364;dchen. Daß endlich<lb/>
man auch darauf &#x017F;ich bezogen hat, daß im Fetus &#x017F;elb&#x017F;t noch<lb/>
keine Nerventha&#x0364;tigkeit vorhanden &#x017F;ey, und er deshalb &#x017F;chon<lb/>
keine Vor&#x017F;tellungen und Empfindungen vom mu&#x0364;tterlichen Ko&#x0364;r-<lb/>
per aufnehmen ko&#x0364;nne, beruht auf einer unerwie&#x017F;enen Voraus-<lb/>
&#x017F;etzung. Nerventha&#x0364;tigkeit wird na&#x0364;mlich ja doch &#x017F;elb&#x017F;t zu den<lb/>
willku&#x0364;hrlo&#x017F;en Bewegungen des Fetus mit erfordert, und wenn<lb/>
wir zugeben daß ho&#x0364;here Seelentha&#x0364;tigkeit im Fetus noch in<lb/>
tiefem Schlafe befangen &#x017F;ey, &#x017F;o bleiben doch von einem &#x017F;ol-<lb/>
chen Schlafe trauma&#x0364;hnliche Vor&#x017F;tellungen nicht nothwendig<lb/>
ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en (vergl. damit die zu Ende §. 740. aufgefu&#x0364;hrte<lb/>
Bemerkung.)</p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 1123.</head><lb/>
                  <p>Ueberhaupt aber ko&#x0364;nnen Gru&#x0364;nde <hi rendition="#aq">a priori</hi> in Ausmitte-<lb/>
lung einer Naturer&#x017F;cheinung die&#x017F;er Art wenig Gewicht haben,<lb/>
&#x017F;ondern <hi rendition="#g">es kommt darauf an, das Faktum außer<lb/>
Zweifel zu &#x017F;etzen</hi>. &#x2014; Alles was Vernunftge&#x017F;etzen nicht<lb/>
wider&#x017F;treitet, mu&#x0364;ßen wir na&#x0364;mlich fu&#x0364;r <hi rendition="#g">mo&#x0364;glich</hi> erkla&#x0364;ren, und<lb/>
es i&#x017F;t ein eben &#x017F;o oft begangener Irrthum, Dinge welche un-<lb/>
&#x017F;erm Stande gei&#x017F;tiger Entwickelung noch nicht erkla&#x0364;rlich &#x017F;chei-<lb/>
nen, fu&#x0364;r unmo&#x0364;glich zu halten, als hinwiederum man oft<lb/>
geirrt hat, indem man halb oder gar nicht beobachtete Er-<lb/>
&#x017F;cheinungen &#x017F;chon fu&#x0364;r That&#x017F;achen erkla&#x0364;rte; allein welche Mo&#x0364;g-<lb/>
lichkeit in dem Krei&#x017F;e uns vorliegender Naturer&#x017F;cheinungen<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[280/0304] nicht eben viel leichter erklaͤren laßen wuͤrde. — Uebri- gens ſind Nerven und Nerventhaͤtigkeit Produkte der orga- niſchen Einheit aber nicht etwa die einzigen Urſachen der- ſelben, und es bedarf daher der Nerven keineswegs unum- gaͤnglich nothwendig zur Uebertragung gewißer Empfindungen; wie dieß bekannte Erſcheinungen beweiſen, (man erinnere ſich nur an das ſogenannte Stumpfwerden der Zaͤhne, an die bei Krankheiten eintretenden heftigen Knochenſchmerzen, Schmer- zen der Haare u. ſ. w.) Auf jeden Fall koͤnnte daher wohl, daß das Kind und die Mutter hier noch ein Organismus ſind, die Frucht nur in der, und durch die Mutter lebt, mehr gelten zur Erklaͤrung der Sympathie zwiſchen beiden, als das Vorhandenſeyn einiger Nervenfaͤdchen. Daß endlich man auch darauf ſich bezogen hat, daß im Fetus ſelbſt noch keine Nerventhaͤtigkeit vorhanden ſey, und er deshalb ſchon keine Vorſtellungen und Empfindungen vom muͤtterlichen Koͤr- per aufnehmen koͤnne, beruht auf einer unerwieſenen Voraus- ſetzung. Nerventhaͤtigkeit wird naͤmlich ja doch ſelbſt zu den willkuͤhrloſen Bewegungen des Fetus mit erfordert, und wenn wir zugeben daß hoͤhere Seelenthaͤtigkeit im Fetus noch in tiefem Schlafe befangen ſey, ſo bleiben doch von einem ſol- chen Schlafe traumaͤhnliche Vorſtellungen nicht nothwendig ausgeſchloſſen (vergl. damit die zu Ende §. 740. aufgefuͤhrte Bemerkung.) §. 1123. Ueberhaupt aber koͤnnen Gruͤnde a priori in Ausmitte- lung einer Naturerſcheinung dieſer Art wenig Gewicht haben, ſondern es kommt darauf an, das Faktum außer Zweifel zu ſetzen. — Alles was Vernunftgeſetzen nicht widerſtreitet, muͤßen wir naͤmlich fuͤr moͤglich erklaͤren, und es iſt ein eben ſo oft begangener Irrthum, Dinge welche un- ſerm Stande geiſtiger Entwickelung noch nicht erklaͤrlich ſchei- nen, fuͤr unmoͤglich zu halten, als hinwiederum man oft geirrt hat, indem man halb oder gar nicht beobachtete Er- ſcheinungen ſchon fuͤr Thatſachen erklaͤrte; allein welche Moͤg- lichkeit in dem Kreiſe uns vorliegender Naturerſcheinungen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie02_1820
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie02_1820/304
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 2. Leipzig, 1820, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie02_1820/304>, abgerufen am 24.11.2024.