Sterben ist zwar, weil sie zeitlich und nicht ewig sind, das Schicksal aller Organismen, allein dergleichen geschieht alsdann eben so wenig durch Krankheit, als ein Mensch durch Krankheit stirbt, wenn ihn der Sturz eines Felsens zerschmettert oder er sonst gewaltsamer Weise umkommt. Deutet dies Alles sonach darauf, daß das unbewußte Seelenleben seinem Wesen nach nicht der Krankheit unter¬ worfen sein sollte, so scheint damit doch hinwiederum im entschiedensten Widerspruche zu stehen, daß im menschlichen Organismus gerade diejenigen Systeme und Organe, welche am wenigsten am Bewußtsein Theil haben und ganz durch die unbewußte Psyche regiert werden, weit häufiger und mannichfaltiger erkranken als diejenigen, welche insbesondre zum Bewußtsein erwacht sind. Bei weitem die größte Häufigkeit des Erkrankens macht sich nämlich bemerklich im Blutleben, im Leben des Verdauungapparats, des Drüsen¬ systems, der Absonderungsorgane u. s. w., und gerade die am meisten und eigentlich allein wahrhaft zum Bewußtsein erwachten Lebenssphären -- das System der Nerven mit dem des Rückenmarks und Hirns, sind weit seltner der wesentliche Sitz von Krankheiten. Dieser Widerspruch ist indeß nur ein scheinbarer. Wir müssen nämlich bedenken, daß alle Krankheit eigentlich eine allgemeine ist, daß, wenn einmal es dazu kommt daß im vorher normalen Organismus ein besondrer Krankheitsorganismus sich entwickelt, nichts in ersterm vollkommen normal bleiben kann. Der Orga¬ nismus ist eine Totalität, er ist nur als solche über¬ haupt möglich, und so bald deßhalb diese Totalität nicht mehr von einem Princip bewegt wird, so bald in ihr ein zweites fremdes Princip sich geltend macht, so kann die primitive Lebensidee auch nirgends mehr sich ganz in ihrer eigentlichen Wesenheit offenbaren, nirgends kann mehr ein vollkommen ungetrübter normaler Zustand Statt finden. Wo daher in uns nur immer eine scheinbar noch so lokale Krankheit sich entwickelt, nie ist allein dieses oder jenes
Sterben iſt zwar, weil ſie zeitlich und nicht ewig ſind, das Schickſal aller Organismen, allein dergleichen geſchieht alsdann eben ſo wenig durch Krankheit, als ein Menſch durch Krankheit ſtirbt, wenn ihn der Sturz eines Felſens zerſchmettert oder er ſonſt gewaltſamer Weiſe umkommt. Deutet dies Alles ſonach darauf, daß das unbewußte Seelenleben ſeinem Weſen nach nicht der Krankheit unter¬ worfen ſein ſollte, ſo ſcheint damit doch hinwiederum im entſchiedenſten Widerſpruche zu ſtehen, daß im menſchlichen Organismus gerade diejenigen Syſteme und Organe, welche am wenigſten am Bewußtſein Theil haben und ganz durch die unbewußte Pſyche regiert werden, weit häufiger und mannichfaltiger erkranken als diejenigen, welche insbeſondre zum Bewußtſein erwacht ſind. Bei weitem die größte Häufigkeit des Erkrankens macht ſich nämlich bemerklich im Blutleben, im Leben des Verdauungapparats, des Drüſen¬ ſyſtems, der Abſonderungsorgane u. ſ. w., und gerade die am meiſten und eigentlich allein wahrhaft zum Bewußtſein erwachten Lebensſphären — das Syſtem der Nerven mit dem des Rückenmarks und Hirns, ſind weit ſeltner der weſentliche Sitz von Krankheiten. Dieſer Widerſpruch iſt indeß nur ein ſcheinbarer. Wir müſſen nämlich bedenken, daß alle Krankheit eigentlich eine allgemeine iſt, daß, wenn einmal es dazu kommt daß im vorher normalen Organismus ein beſondrer Krankheitsorganismus ſich entwickelt, nichts in erſterm vollkommen normal bleiben kann. Der Orga¬ nismus iſt eine Totalität, er iſt nur als ſolche über¬ haupt möglich, und ſo bald deßhalb dieſe Totalität nicht mehr von einem Princip bewegt wird, ſo bald in ihr ein zweites fremdes Princip ſich geltend macht, ſo kann die primitive Lebensidee auch nirgends mehr ſich ganz in ihrer eigentlichen Weſenheit offenbaren, nirgends kann mehr ein vollkommen ungetrübter normaler Zuſtand Statt finden. Wo daher in uns nur immer eine ſcheinbar noch ſo lokale Krankheit ſich entwickelt, nie iſt allein dieſes oder jenes
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Sterben iſt zwar, weil ſie zeitlich und nicht ewig ſind, das
Schickſal aller Organismen, allein dergleichen geſchieht
alsdann eben ſo wenig durch Krankheit, als ein Menſch
durch Krankheit ſtirbt, wenn ihn der Sturz eines Felſens
zerſchmettert oder er ſonſt gewaltſamer Weiſe umkommt.
Deutet dies Alles ſonach darauf, daß das unbewußte
Seelenleben ſeinem Weſen nach nicht der Krankheit unter¬
worfen ſein ſollte, ſo ſcheint damit doch hinwiederum im
entſchiedenſten Widerſpruche zu ſtehen, daß im menſchlichen
Organismus gerade diejenigen Syſteme und Organe, welche
am wenigſten am Bewußtſein Theil haben und ganz durch
die unbewußte Pſyche regiert werden, weit häufiger und
mannichfaltiger erkranken als diejenigen, welche insbeſondre
zum Bewußtſein erwacht ſind. Bei weitem die größte
Häufigkeit des Erkrankens macht ſich nämlich bemerklich im
Blutleben, im Leben des Verdauungapparats, des Drüſen¬
ſyſtems, der Abſonderungsorgane u. ſ. w., und gerade die
am meiſten und eigentlich allein wahrhaft zum Bewußtſein
erwachten Lebensſphären — das Syſtem der Nerven mit
dem des Rückenmarks und Hirns, ſind weit ſeltner der
weſentliche Sitz von Krankheiten. Dieſer Widerſpruch iſt
indeß nur ein ſcheinbarer. Wir müſſen nämlich bedenken,
daß alle Krankheit eigentlich eine allgemeine iſt, daß, wenn
einmal es dazu kommt daß im vorher normalen Organismus
ein beſondrer Krankheitsorganismus ſich entwickelt, nichts
in erſterm vollkommen normal bleiben kann. Der Orga¬
nismus iſt eine Totalität, er iſt nur als ſolche über¬
haupt möglich, und ſo bald deßhalb dieſe Totalität
nicht mehr von einem Princip bewegt wird, ſo bald in ihr
ein zweites fremdes Princip ſich geltend macht, ſo kann die
primitive Lebensidee auch nirgends mehr ſich ganz in ihrer
eigentlichen Weſenheit offenbaren, nirgends kann mehr ein
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Wo daher in uns nur immer eine ſcheinbar noch ſo lokale
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/106>, abgerufen am 21.11.2024.
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